VI, Allgemeine Besprechungen 1, Karl Kraus Demolirte Literatur, Seite 3

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR.
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hervorgerufen. Von der inneren Wirkung neuen Styls, der
das Stoffgebiet erweitern half und sociale Probleme ins
Rollen brachte, ist unsere junge Kunst verschont geblieben,
die geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der
Zeit ihr Heil sucht. Wenn Gedankenarmuth in Stimmungen
schwelgen will, muss das Wienerthum für die Farbe her¬
halten, und der Localpatriotismus erwacht zu neuem, sensi¬
tiverem Dasein.
Ueber den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zweck
einer endgiltigen Formulirung des Begriffes, Künstlermensche
abgehalten wurden, sind so manche dieser Schriftsteller nicht
zur Production gekommen. Bevor man sich nicht über eine
Definition geeinigt hatte, wollte sich keiner an die Arbeit
trauen, und manche hatten sich längst als Stammgäste einen
Namen gemacht, bevor sie dazu kamen, sich ihn durch ihre
Werke zu verscherzen. Griensteidl ist nun einmal der Sammel¬
punkt von Leuten, die ihre Fähigkeiten zersplittern wollen,
und man darf sich über diese Unfruchtbarkeit von Talenten
nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch
beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Ent¬
faltung hindern. Prätention scheint ja in Fülle vorhanden zu
sein, überall, an allen Ecken und Enden, keimt eine junge
Manierirtheit, wie sie bis nun keine zweite Literaturbewegung
hervorgebracht hat: wenn jetzt auch noch Begabung hinzu¬
kommen sollte, werden wir jungen Oesterreicher getrost das
Ausland in die Schranken fordern können.
Bis heute war in diesen Kreisen eine affectirte Be¬
ziehung zur Kunst vorgeschrieben, und das eigenartige
Können der Jungwiener Dichter besteht darin, dass sie ein
grosses Interesse für lebemännische Alluren an den Tag
legen, dass sie imstande sind, von den Eindrücken eines Ronacher¬
Abends durch Wochen zu zehren, die Komik eines Clowns mit
Behagen zu geniessen und bei jedesmaligem Zusammensein die
ältesten Anekdoten auszutauschen. Derselbe Geist, wenn er
aus solcher Lebensfülle in beschauliches Alleinsein flieht,
findet Stimmungstrost in dem Gedanken an die sstillen
Gassen am Sonntag-Nachmittag und an das unsäglich
traurige Praterwirthshaus an Wochentagen¬,
immer
wiederkehrende sentimentale Wahnvorstellungen, die diesen
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