VI, Allgemeine Besprechungen 1, W. Fred Wiener Moderne, Seite 3


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Panphlets offorints
„Die Redenden Künste“, Zeitschrift für Musik und Litteratur, III. Jahrgang 1806/07. 1225
Für die ersten war es ein Lustspiel, für die zweiten ein Schauspiel, Tragödie. In
dieser Welt giebt es keine leidenschaftlichen Scenen. Die Verwicklung wird nur
durch die Verschiedenheit der beiden Typen erklärt. Denn beide Paare wollen ein
gleiches Leben führen und nur dem leichtlebigen ersten kann es glücken. Man
braucht sich nur vorzustellen, was eingetreten wäre, wenn nicht der zweite Jüngling,
sondern der erste ein Duell gehabt hätte. Er wäre „vernünftig“ gewesen, hätte
sich jede Aufregung erspart und wäre wahrscheinlich deshalb auch nicht gefallen.
Wenn aber doch, so hätte sein Mädchen um ihn herzlich geweint, sich nach zwei
Monaten eingebildet, zu ihm habe sie das einzigemal wahre, grossartige Liebe ge¬
fühlt und sich nach weiteren drei bis vier Wochen getröstet.
Nun trifft das alles die anderen. Wie des zweiten, des sinnenden Mädchens
Geliebter stirbt, da jammert es nicht, fällt auch nicht in Ohnmacht,
- sie geht
ohne Scene und leidenschaftliches Pathos in den Tod.
Es liegt ein eigener Zug in dieser Dichtung. Eine merkwürdige Lebens¬
auffassung: ich scheue mich noch, aber ich möchte sagen, eine Moralidee liege dem
Schnitzlerschen Schauspiel, das mancher Philister frivol nennen wird, zu Grunde.
Der Vater des Mädchens, das ihrem Geliebten in den Tod folgt, weiss von
der Liebschaft. Er ist ein braver, wir Wiener sagen, solider Mann; und dieser
grundehrliche Bürger verdammt das Verhältnis seiner Tochter nicht. Er sagt:
Das Mädel soll auch wissen, was das Leben Schönes hat. Was hat sie davon,
wenn sie ihre Jugendzeit in der Nähstube versitzt und als blutarmes Ding nur die
Schattenseite des Lebensweges betreten darf? Und was hat sie schon, wenn nach
jahrelangem Warten der Strumpfwirker kommt und das alte Mädchen heiratet?
Diese Moralphilosophie hat ihre Berechtigung und ihre Besonderheiten. Vor
allem ist sie bloss dichterisch; Logik ist nicht darin, im ersten Sinne des Wortes.
Aber man muss das Wiener Leben auch kennen, um zu wissen, wie viel Wahres
und Wohlwollendes und vielleicht auch Moralisches in dieser These von der Lebens¬
freude liegt.
Man mag es Epikuräismus nennen; aber auch die nüchterne Wissenschaft giebt
jetzt zu, dass Epikur in unseren Augen verlästert wurde durch mittelalterliche
Asketen, die seine warme, auf frischer Sinnlichkeit beruhende Lebensfreude für
geile Genusssucht hielten.
Nicht Menschen, die Charakter und Schicksale mit vielen anderen teilen,
sondern merkwürdige Einzelgestalten zeigt Schnitzlers Novelle „Sterben“. Diese
Art der Personen entspricht ja auch eher dem Wesen der Novelle.
Auch hier sehen wir ein Paar, einen jungen Mann und sein Mädchen. Er
ist unheilbar, dem Tode geweiht: nur ein Jahr des Lebens gehört ihm noch. Und
das wissen die Beiden. Allein das Mädchen will ihn nicht verlassen. Er erstirbt
an ihrer Seite und dieses lange letzte Jahr des Todeskampfes spielt sich vor uns
ab. Ein Gemälde mit dunklen Farben, grauer Grund und auch die spärlichen
Sonnenstrahlen werfen nur fahles Licht.
„Sterben“ ist Schnitzlers reifstes, vollstes Werk. Ich möchte es kühn zu den
besten Büchern rechnen, die die erzählende Litteratur aller Völker der letzten
Jahre aufzuweisen hat.
Uber „Freiwild“, das ja in Deutschland früher aufgeführt wurde als in Wien,
ist in diesen Blättern schon geurteilt worden.
Arthur Schnitzler ist ein Träumer; ein Dichter, der das Leben liebt, nicht
allein wegen seiner Freuden, sondern auch um seiner sehnenden Schmerzen willen.
(Fortsetzung folgt.)