VI, Allgemeine Besprechungen 1, Kronfeld, Seite 28


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Panphlets offorints
recht und schlecht; im ersten und schwächsten Stücke die sinnliche und dabei
vor Gesetz und Sitte sich beugende Ehefrau, die ihrem Gatten die kaum be¬
ruhigende Mittheilung macht:
„Als treues Weib kann ich Dir ferner in die Augen schauen,
Wenn Du mich hütest, kannst Du mir vertrauen.“
In der „Gefährtin“ erleben wir noch einmal die Ehebrecherin, welcher
der Gatte nach ihrem Tode gewissermassen verzeiht — die Sünderin ist
begraben, das gibt diesmal einen versöhnenden Schluss.
In dem dritten Einacter aber, in welchem der weltbewegende Ton der franzö¬
sischen Revolution — bei der Wiener Aufführung freilich nur sehr gedämpft —
erklingt, wird ein neues und grosses Motiv, die männliche Eifersucht, erschüt¬
ternd dargestellt.
Der Schauspieler Henri hat die berüchtigte Schauspielerin Leokadie geheiratet
und glaubt Komödie zu spielen, indem er declamiert, wie er einen Herzog, den Ver¬
führer seiner Frau, erdolcht habe. Aber Leokadie — wie wäre es auch bei einer
Frauengestalt unseres Dichters anders möglich? — hat ihren Gatten wirklich mit
jenem betrogen; Henri erwacht jählings aus der schrecklichen Komödie zu der noch
schrecklicheren Wahrheit und erdolcht diesen Herzog.
Die Hauptstelle aus Henri’s Declamation lautet: „Ich hab’ sie begleitet.
in's Theater
.. zum letzen Male sollt’ es heute sein ... ich hab’ sie geküsst..
und sie ist hinauf in ihre Garderobe und ich bin fortgegangen wie
Einer, der nichts zu fürchten hat. — Aber schon nach hundert Schritten hat’s be¬
gonnen.. in mir.. versteht Ihr mich ... eine ungeheure Unruhe und
es war, als zwänge mich irgend ’was, umzukehren .. und ich bin umgekehrt und
hingegangen. Aber da hab’ ich mich geschämt und bin wieder fort ... und wieder
war ich hundert Schritt weit vom Theater ... da hat es mich gepackt.. und
wieder bin ich zurück. Ihre Scene war zu Ende . .. sie hat ja nicht viel zu thun,
steht nur eine Weile auf der Bühne, halb nackt — und dann ist sie fertig.. ich
stehe vor ihrer Garderobe, ich lehne mein Ohr an die Thür und höre flüstern. Ich
kann kein Wort unterscheiden . .. das Flüstern verstummt ... ich stosse die Thür
auf
Er brüllt wie ein wildes Thier — es war der Herzog von Gadignan und ich
hab'
ihn ermordet.“
Bravo! bravo! ruft das kunterbunte Publicum in der Kneipe nach dieser
schauspielerischen Leistung, welcher sofort die schreckliche Wahrheit folgt.
Dieser Einacter, von Schnitzler als Groteske bezeichnet, ist sein
lebenswahrstes, wirklichstes und wirksamstes Drama. Wenn der Dichter auf
diesem Wege vorwärts schreitet, wenn er statt eines Capitels aus dem Leben
des Weibes allgemeinere und würdigere Themen wählt, so darf von ihm eine
Renaissance des deutschen Dramas erhofft werden. Es steckt ein grosser Dra¬
matiker und Erzähler in ihm — er muss nur das grosse Leben erfassen, anstatt sein
schönstes Können und Empfinden an traurigen Märtyrerinnen der Liebe und
Lust zu erschöpfen. Wenn es auch wahr ist, dass es die besten Frauen sind.
von denen man nicht spricht, so ist doch zu wünschen und zu hoffen,
dass unsere grossen Dichter nicht bloss unglücklichen, bemitleidenswer#n
Mädchen und verbrecherischen Gattinnen ihre alles verklärende Feder leihen.
Das Leben ist überall interessant, nicht bloss in einem oder dem anderen seiner
dunkeisten Capitel.

Druckerei der k. Wiener Zeitung.
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