VI, Allgemeine Besprechungen 1, Richard Charmatz, Seite 2

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1: Panphlets, Offprints
Wiener Litteraten.
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Indem ich von Wiener Autoren spreche, habe ich noch lange nicht
das Dorhandensein einer hervorragenden spezifisch wienerischen Litteratur
zugegeben. Wohl finden sich mancherlei Eigentümlichkeiten aus dem
großstädtischen Leben da und dort skizziert: das große Wiener Sitten¬
gemälde, das uns das Dorder= und Hinterhaus, die verkehrsbelebten und
vereinsamten Straßen mit ihren sozialen und sittlichen Erscheinungen
zeigt, harrt noch seines Schöpfers. Was an Wiener Lokalschilderungen
aufflattert, sind einzelne Scenen, die erst zum Gesamtbilde vereinigt werden
müssen.
Die „Jungwiener Litteratur“ von der man meinen könnte, sie
werde zuerst dem heimatlichen Boden reiche Frucht abzugewinnen suchen,
ist im Grunde besehen kosmopolitisch und wurzelt in der Welt¬
litteratur. Auch die bedeutenden Schriftsteller, die Wien heute beherbergt
und die dieser lauten Clique ferne stehen, haben nichts ausgesprochen
Wienerisches an sich. Sie suchen, über die Grenzen der Donaustadt
hinaus, in der Kulturwelt ihre Heimat. Diese Konstatierung macht den
geringen Enthusiasmus erklärlich, den mitunter ganz bedeutende Wiener
Schriftsteller in ihrem engeren Wirkungskreise finden. Der Wiener ist
eitel und kann nicht verzeihen, daß er so stiefmütterlich behandelt wird.
Arthur—Schnitzler ist heute zweifellos der größte und be¬
gabteste Dichter Osterreichs. Er zählt zu jenen feinen Beobachtern,
denen Erscheinungen, die wir ganz unbeachtet lassen, reiche Anregung
gewähren. Dabei verliert er sich nicht in metaphrsische Spekulationen,
sondern begnügt sich, das Verhältnis des Individuums und der einzelnen
gesellschoftlichen Gruppen zum Leben zu untersuchen. Seinen geschärften
Augen bleibt nichts verborgen: die tiefsten Geheimmisse der Menschen¬
seele werden ihm offenbar. Die mannigfaltigen Situationen, welche sich
aus dem Verkehr zwischen Mann und Weib entwickeln, beobachtet er in
ihren feinsten Regungen und Stimmungen. Seine große Kunst äußert
sich in der unnachahmlichen Aeisterhaftigkeit, seelische Affekte zu veran¬
schaulichen und in unseren Gefühlen vibrieren zu lassen. Wie „Anatol“
hat so mancher empfunden, ohne sich recht des Augenblickes bewußt zu
sein. Das „süße Mädchen“, die geduldig hingegebene Frau sind nicht nur
Wiener Trpen und finden sich überall. Wo wäre aber der Dichter,
der sie so naturwahr zu erfassen und zu zeichnen wüßte, wie Schnitzler?
Das ist seine große Künstlergabe. Seine Dichtungen bleiben Wahrheit,
Ausschnitte aus dem Leben, an denen wir sonst täglich achtlos vorbei
eilen.
Die Beobachtung der Individuen in ihren gegenseitigen Beziehungen,
muß das Augenmerk eines Dichters auf die einander gegenüberstehenden
Gesellschaftsgruppen lenken. Schnitzler betrachtet diese nicht so sehr von
ökonomischen, als von moralischen Gesichtspunkten aus. Ihm sind die
natürlichen, ungefälschten Empfindungen der Herzen aufgedeckt. Darum
ist ihm die Verkünstelung und Verkleisterung, die unser ganzes Gesellschafts¬
leben verunstaltet, ein Dorn im Auge. Die konventionelle Lüge, der
heuchlerisch betriebene Sittenraub, die Freiwildhetze erregen seinen Grimm.