VI, Allgemeine Besprechungen 1, Richard Charmatz, Seite 3

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1. Panphlets, Offpri.
Richard Charmatz.
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Ob der überholten, kastenhaften Standesbegriffe des Militärs lodert seine
Empörung auf. „Lieutenant Gustl“ zeigt uns, wohin die Lostrennung
der Armee von der bürgerlichen Rechtsanschauung und Unrechtsfühne
führt. Wer mit weit= und tiefdringendem Blicke des Lebens wechsel¬
volles Glücksspiel verfolgt, kann nicht urteilslos an der Thatsache vor¬
beigehen, daß die Hohlköpfigkeit und breite Dose über die bescheidene,
ehrliche Tüchtigkeit siegt. Das Genie bricht sich durch, lassen wir uns
gläubig sagen, weil wir eine sittliche Einlullung brauchen. Schnitzler
duldet keine Übertünchung der Wahrheit; er reißt den glitzernden Schleier
weg und zeigt die im Elend sang= und klanglos hinsterbenden Talente,
denen die wortreiche Mittelmäßigkeit alle Wege verammelt hat.
Schnitzler ist ein Freund der Natürlichkeit, und der Ohrase abhold.
Er sagt, was er empfindet und wie er empfindet. Die schlichte Ein¬
fachheit seiner Werke ist der Ausfluß seiner starken Kunst. Während andere
einen gewaltigen Apparat entwickeln, um auf uns zu wirken, hat Arthur
Schnitzler im vorhinein schon den seelischen Erfolg sicher, weil er die reine
Sprache eines edlen Herzens spricht. Er ist der Dichter des Lebens,
das in seinen zartesten Regungen erkannt, ganz genossen ist.
Wo ein echter Künstler wirkt, fehlt es nicht an Neidern und Spöttern.
Ich finde es begreiflich, wenn Hugo von Hofmannsthal den Hohn
des Litteratenpöbels erweckt. Er ist kein Dichter für die Menge. Seine
poctischen Schöpfungen sind für die Glücklichen im Sonnenglanze bestimmt
und von einer Ruhe und Feierlichkeit überstrahlt, die aufgeregte Lebens¬
kämpfer nicht in sich aufnehmen können. Hofmannsthal kennt die großen
sozialen Leiden der Menschheit nicht, er weiß nur von den kleinen Herzens¬
qualen zu erzählen. Aber verursachen die psrchischen Martrrien der
Glückskinder wirklich bloß geringfügige Pein? Der Barde des reichen
Bürgertums wird, ohne es zu wollen, zum Verkünder des tiefen Wehs,
das auch durch die Reihen der Beneideten zittert. Ist des reichen Kauf¬
manns junge Frau, die „Sobeide“ nicht so unglücklich wie nur irgend
ein verfolgtes Geschöpf? Es sind dies nur Leiden unter seidener Hülle.
Hofmannsthal ist der einzige Doet Österreichs, der sich mit Erfolg an
klassische Formen heranwagt. Aber seine Werke sind lebensfremd und
zeitentrückt, weil er die Stürme unserer Tage kaum jemals empfunden
hat. Er steht in gemütlicher Stube am Fenster blickt in einen blumen¬
besäten, gepflegten Garten hinaus, sieht das Spiel froher Kinder, hört
den Sang ungestörter Dögel und meint: das ist das Leben. Ihm ist
das Schicksal ein liebliches Buch, in dem die zufriedenen Erdenkinder
kummerlos von Lenz und Liebe, von seel'ger gold'ner Zeit lesen.
Claudio (in „Der Thor und der Tod“) sagt:
„Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch,
Aein Leben zu erleben wie ein Buch,“
und meint wohl damit den Dichter selbst.
Hofmannsthal begnügt sich nicht, den Inhalt der Bücher trocken hin¬
zunehmen; er ist ein Philosoph, der in der Studierstube seine Welt findet.