VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 11

1. Panphiets
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S
offorint
Dichtung.
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Schlaf zu Gehör gebracht. Später ist dann in Berlin noch
eine „Deutsche Bühne“ und eine „Freie Volksbühne“ für die
Arbeitermassen entstanden, und „Freie Bühnen“ mit verwandten
Aufgaben und ihnen mehr oder minder entsprechende Ein¬
richtungen sind auch in Leipzig, München, Hamburg und
anderswo emporgeblüht.
Schon diese Folge von teilweis freilich rasch vorüber¬
gehenden Gründungen bezeugt, wie energisch jetzt die neue
Kunst der Bühne zudrängte. Und so blieb es denn nicht bei
privaten Veranstaltungen. Schon von 1890 ab ging Suder¬
manns „Ehre“ freilich noch ein Kompromißstück, über die
öffentlichen Bühnen Deutschlands und bald auch des Auslands.
Dann eroberten sich Hauptmanns Dramen „Das Friedensfest“
und „Einsame Menschen“ anfangs der neunziger Jahre rasch das
Deutsche Theater in Berlin und die Hofburg in Wien; und
„Hannele“ erschien in Berlin zuerst im Königlichen Schauspiel¬
hause (14. November 1893). Den vollen Triumph der neuen
Kunst aber bezeichnete die Aufführung von Hauptmanns
„Webern“. Noch 1892 polizeilich verboten, sind sie seit Sep¬
tember 1894 auf dem Berliner Deutschen Theater binnen dreier
Jahre mehr als zweihundertmal gegeben worden.
Begleiterscheinungen dieses Aufschwungs waren die jetzt
voll zu Tage tretende Ausbildung einer neuen Schauspielkunst,
in der Reicher mehr das impressionistische, Kainz mehr das
nervöse Element vertrat, sowie gewisse Veränderungen in dem
hergebrachten Repertoire der großen Toten. Da tauchte Molière
wieder stärker auf, durch Fuldas witzig=elegante Übersetzung
zur Aufführung doppelt empfohlen, und von Goethe erlebten
die „Zustands= und Seelendramen“ „Tasso“ und „Iphigenie“
und namentlich wohl „Tasso“ etwas häufiger die Aufführung.
Was aber wichtiger war: im Beginn der größeren äußeren
Fortschritte fand sich über den Norweger Ibsen hinaus auch
ein deutscher Dichter, der dem vorwärtsdrängenden dramatischen
Leben lange Zeit hindurch beinah regelmäßig einen repräsen¬
tativen Ausdruck zu geben wußte: Gerhart Hauptmann (geb.
1862). Hauptmann ist nach einer Jugend, die sehr mannig¬

Dichtung.
fachen Versuchen geistiger Bethätigung gewidm
Jahre 1886 in die moderne Bewegung eingetre
Zeit hatte er Beziehungen zu gewissen litter
Berlins. Voll entbunden aber wurde seine lit
doch erst 1889 im Verkehr mit Arno Holz.
in einen Impressionismus, den auch der „Bah
noch nicht aufgewiesen hatte; und zugleich er
Dichter die dramatische Form als die seiner
mäßeste!: es entstand „Vor Sonnenaufgang“.
Das Drama führt in die sittlich völlig
eines schlesischen Dorfes, dessen Bauern durch
Kohlen unter ihrem Grund und Boden zu rei
geworden sind. In einer Familie, deren Unter
liche Trunksucht unabwendbar ist, scheint sich
gebliebenen Mädchen die Gelegenheit zu eröffn
heiratung mit einem Fremden den entsetzlichen
denen sie lebt, zu entrinnen: diese Aussicht ves
sie giebt sich den Tod. Das Drama, das wie
Hauptmanns zur Charakteristik des allgemeinen
dramatischen Entwicklung hier etwas genauer bei
soll, bietet noch eine Mischung sehr verschiedener
Impressionismus ist wohl angestrebt, aber nicht
Führung der Scenen und des Dialogs gleichmäß
denn überhaupt die Technik im engeren Sinne
wüchsiges hat; und neben dem Zuge zur E
originären deutschen Naturalismus stehen noch
der Werke Tolstojs und namentlich Ibsens. Z
licheres ist dagegen schon mit sicherem Instinkt
Folgerichtigkeit des Verlaufes der Handlung u
führung dieser Handlung auf die einfachste For
ist denn auch schon die Möglichkeit eröffnet, thu
formalem Wege, ohne starkes Hervorheben ei
So viel wird sich an den Ausführungen Schlenth
S. 72, gegenüber Meyer, Deutsche Litteratur im 19
S. 831 f., aufrecht erhalten lassen.
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