VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 13

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1. Panph offbrints
Dichtung.
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wenigstens für das Publikum Shakespeares: für uns gehören
sie ihrem sozialpsychischen Gehalte nach, soweit dieser vom
Dichter unbewußt individualisiert worden ist, eben doch nur
der Zeit Shakespeares an. Und wer wird heute selbst in den
Schweizern des „Tell“ gerade die Schweizer des 13. oder 14.
Jahrhunderts klar erkennen wollen, wer in den Niederländern
des „Egmont“ die Niederländer gerade der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts? Nur in „Wallensteins Lager“ fühlen wir
mit Sicherheit den vollen Hauch des Dreißigjährigen Krieges.
Wenn aber Schiller die soziale Psyche dieser schweren
Zeit mehr als andere Dichter den sozialpsychischen Charakter
anderer Perioden zu neuem Leben erweckt hat, so erklärt sich
das zu nicht geringem Teile daraus, daß er die Sprache der
Personen des Lagers mehr als sonst üblich der Sprache des
17. Jahrhunderts angenähert hat. Denn worin konzentriert
sich der feine Duft des sozialen Seelenlebens eindringlicher und
gleichsam körperlicher als in der Sprache? Die Kunst, die
Sprache einer sozialen Welt zu beherrschen, muß heute als
Vorbedingung für deren künstlerische Wiedergabe betrachtet
werden. Es entspricht darum der elementarsten Forderung
eines naturalistischen Impressionismus, wenn „de Waber“
Hauptmanns den schlesischen Dialekt in all seinen Besonder¬
heiten sprechen.
Wenn aber die Sprache das greifbare Leben gleichsam der
Gesamtseele einer menschlichen Gesellschaft darstellt und die
menschlichen Gesellschaften in ihren größten und weitesten Er¬
scheinungen doch nicht bloß als gleichgültig nebeneinander be¬
stehende Teilgruppen eines großen, zu einer bestimmten Zeit
bestehenden nationalen oder auch internationalen Körpers be¬
griffen werden können, sondern vielmehr als die Gesellschaften
verschiedener, seelisch weit voneinander abweichender Zeitalter,
ergeben sich dann nicht gänzlich neue Aufgaben und Grund¬
lagen für jedes historische Drama? Muß dann nicht das
herkömmliche Drama der geschichtlichen Begebenheit, das der
Hauptsache nach nur dadurch als historisch charakterisiert zu
werden pflegt, daß uns aus unserer Lernzeit her bekannt

Dichtung
ist, wie seine Personen diesem
gehören: — muß es nicht dadurch
unterbaut werden, daß sein gesells¬
auch durch die Sprache deutlich d
es einer bestimmten Vergangenheit
nicht weiterhin aus diesem Zusamm
historisches Drama, als das bisher
psychische oder das Drama des his
sich früher ausgedrückt haben wi
die Leiden, Schicksale, Katastrophend
der Volksseele von ehedem in der
einzig und allein charakteristischen
zeigt? — Anfänge eines solchen D
an Grabbes Namen knüpfen, hat Ha
Geyer“ zu einer der Absicht des
Art des dramatischen Kunstwerks
„Florian Geyer“, benannt n
des Bauernkrieges von 1525, füh
Es ist, im weitesten genommen,
Volksseele dieser Zeit auf der Büh
dies Ziel wird zunächst durch Beha
Alle Personen reden, unter den für
wart unerläßlichen Einschränkungen
hunderts, und zwar ebenso dem
nach. Aber noch über die Sprach
geschichtliche Seelenzustand des 16. J
aufgesucht: die nach unserem begri
sittlich viel zersetzteren Empfinde
Seele des 16. Jahrhunderts tritt
lungsweise der Personen ständig in
halb dieses großen zeitpsychischen
sondere dramatische Handlung.
Diese Handlung aber ist dannn
engeren Sinne sozialpsychisch, denn
Klasse des Volkes, sind die Bauern
gegen die weltlichen und geistlichen (