VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 23

box 36/1
1. Panphlets, Offprints
VI.
1. Die Entwicklung des neuen Dramas ist in Deutschland
vornehmlich durch Hebbel, Ludwig und Anzengruber vorbereitet
worden. Und schon hatten diese da, wo sie im Sinne des
Impressionismus tiefer in den äußerlichen wie den psycho¬
logischen Prozeß eindrangen, auch andere Gegenstände behandelt
als das alte Drama: Hebbels „Maria Magdalena“, Ludwigs
„Erbförster“. Anzengrubers Bauerndramen suchen die stoffliche
Wirklichkeit der niederen Klassen auf. Und Anzengruber, den
ausgesprochensten Vorläufer der neuen Periode, sehen wir in
seiner Kunst im allgemeinen noch scheitern, sobald er ihr die
wirklichkeitsgetreue Darstellung auch nur besserer bürgerlicher
Kreise zumutet.
Nach Anzengruber aber erwuchs der neuen dramatischen
Kunst noch von einer ganz anderen Seite her, man kann nicht
sagen eine unmittelbare Vorbereitung, wohl aber ein Beistand,
der den Übergang stark erleichterte. Und das geschah, während
Anzengruber ein Vollblutösterreicher war — wenn er auch in
Norddeutschland schon früh geschätzt wurde —, in Berlin. Es
kommt da ein wenn auch innerlich vielfach abweichendes, so
doch äußerlich ähnliches Moment in Betracht, wie wir es schon
in der Entfaltung des Berliner Romans kennen gelernt haben:
die besonderen Berliner Verhältnisse begünstigten es daß sich
hier ein Dichter entwickelte, der, bei vollem Festhalten an dem
alten historisierenden Idealismus, doch vor allem nervös war
und die äußere, physiologische Seite des Geschehens stark be¬
tonte: v. Wildenbruch.
Dichtung.
Die Aufführung der „Karolinger“ Wildent
im Jahre 1882 war zweifelsohne ein wirkliches
gleich der Dichter schon vorher, übrigens nach en
auf der deutschen Bühne außerhalb der Reichshau
fassen begonnen hatte. Zwar erkannte die haupt
schon früh die psychologische Leere des Dichters
handelten Schatten, wenn auch von Riesengröße
war bezeichnend, daß Wildenbruch trotzdem durch
was man vor allem zu genießen gekommen war
bunte Verlauf des Lebens, der dramatische Pomp
Scenen. Und mehr: dies Physiologische erschi
faßt: in jagender Hast folgte Handlung auf
große dramatische Anlage im äußeren Aufbau
sondere Geschick, die moderne Reizsamkeit aufzust
unverkennbar. Und so ward Wildenbruch auf
etwa ein Jahrfünft — der Held des Tages; ers
er von neueren, jüngeren Dichtern überholt zu w
dem schweren Problem des modernen Dramas mit
Ernst und Rüstzeug auf den Leib rückten.
Freilich: zu einem großen deutschen Dramc
diese späteren Versuche lange Zeit nicht. Es wi
sonders lehrreich sein, kann aber hier nicht
werden, die sehr verschiedenartigen Anläufe zu
Drama in spezifisch litterargeschichtlicher Forschun
untersuchen, wie sie etwa in den Hohenstaufend
Greifs (1886 f.) und im „Trifels und Palermo
crons, auch einem Hohenstaufendrama aus dem
ferner im „Königssohn und Rebell“ von Felix S
in dem „Naphthali“ von Fritz Lienhard (1888),
auf der Bastille“ von Franz Herzfeld (1889) u. a.
bis im „Nero“ von Julius Brand (Hillebrand) 1
liche Versuch auftritt, das Drama, nach Anal
wicklung der Kunsterzählung, einstweilen einmal
Sammlung von Scenenskizzen modernen Charakter
Dabei mischen sich freilich bei Brand in dies abso
nistische Verfahren schon romantische und symbolisti