VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 27

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Panphlets, Offprints
Dichtung.
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Wärme der Darstellung gestattet, die eben nur geschildert sein
will; sie ist ein für allemal für sich und in sich monistisch¬
immanent organisiert, und der Dichter zeigt uns ihre Schick¬
sale nach ihren Gesetzen ganz objektiv, wie das Schauspiel
einer Vivisektion. Ibsen kennt also absolut kein Schicksal von
irgendwelcher Transcendenz, das etwa gar ästhetischen Rück¬
sichten in der Abrundung von Menschenschicksalen zugänglich
gedacht werden könnte, und seine Dramen stellen, von dieser
Seite her betrachtet, kein „geschlossenes Kunstwerk“ im Sinne
der Kunstlehre früherer Zeiten dar, sondern einfach ein Stück
Leben, wie es nach den Gesetzen seiner eigenen Kausalität
selbstmächtig abläuft.
Trotzdem kommt es bei ihm zu einer gewissen Geschlossen¬
heit des Kunstwerks. Nur daß diese nicht dem inhaltlichen
Zusammenstimmen der Handlungen, sondern erst der formal¬
künstlerischen Behandlung des gegebenen Handlungsverlaufes
verdankt wird. Und da besteht nun die Kunst des Dichters
zumeist darin, daß er dem Zuschauer unmittelbar nur die
Katastrophe vorführt, während die Erzählung der Verknüpfung
der Ereignisse, die zur Katastrophe drängen, nur durch die
Mitteilungen ungezwungener Erinnerungen der Beteiligten
während der Katastrophe selbst erfolgt. Bei dieser Form¬
gebung wird dann Zeit gewonnen, die Katastrophe selbst in
vollster Ausführlichkeit und in der ganzen illusionistischen Breite
des Alltagslebens vorzuführen: und eben in dem Gegensatz
zwischen dem einförmig=ruhigen Sichhinschieben der Gewohn¬
heiten und dem furchtbaren, in sie eingesprengten, sich zwischen
ihnen vollziehenden Inhalt der Katastrophe liegt zum großen
Teile die zauberische Anziehungskraft des Ibsenschen Theaters.
Was aber entwicklungsgeschichtlich wichtig ist: erst diese An¬
ordnung der Fabel läßt überhaupt auf der Bühne die volle Ent¬
faltung des Menschenlebens im impressionistischen Sinne zu.
Unser Drama ist der Geschichte seines inneren Aufbaus
nach bekanntlich aus der Erzählung erwachsen. Die Mysterien
des Mittelalters wollten den Hauptgang der christlichen Heils¬
thaten lebendig erzählen. Die Bühne Hans Sachsens ist der