VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 66


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Lanphlets, offorints
Dichtung.
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und begriff, daß es auch auf diesem Gebiete Grenzen der Fort¬
bildung gäbe, wie sie in der That durch die allgemeine seelische
Porenz der Zeit gesteckt sind und jetzt erreicht schienen? Schon
früh, mit dem Eintritt mehr individualpsychischer Betrachtung,
sah man sich naturgemäß auf die tiefere Durchdringung der
Charaktere gegenüber der Handlung und gegenüber der Umwelt
hingewiesen und fand in diesem Wechsel des Interesses auch
die Aufforderung, wieder an jene Momente zu denken, welche
die Charaktere verbinden. Und damit ergab sich zwar noch
nicht der Gedanke an die Weltanschauung als eine das Handeln
der Gestalten beherrschende und sie zugleich idealisierende
Macht — aber doch ein Schritt in dieser Richtung. Das
Stimmungsdrama kam auf: nicht seine Weltanschauung trug
der Dichter in die Handlung seines Dramas hinein, wohl aber
ein mehr Außerliches seiner Persönlichkeit, seine Stimmung.
Es ist ein Zug gleichsam anfänglicher, primitiver Idealisierung.
Allein: kann eine solche Idealisierung bloß durch eine per¬
sönliche Stimmung erreicht werden? Keineswegs, denn — wie
schon einmal früher bemerkt — das Motiv, das idealisiert,
muß in der Offentlichkeit des Publikums wirken, muß objektiv,
muß dem Dichter und den Zuschauern gemeinsam sein. Mehr
als vielleicht sonst irgendwo in der Dichtung drängt sich hier
eine Ablehnung rein subjektiven Empfindens auf: eine Welt¬
anschauung muß es sein und, da es sich um menschliches
Handeln dreht, vor allem die sittliche Seite einer Weltanschauung,
die klärend, idealisierend in die impressionistische Technik des
Dramas eingreift, um sie zu höherem Fluge zu befähigen.
Ethische Weltanschauung, mit Rücksicht auf die besonderen
Absichten und das Wesen des Dramas klare Schicksalsidee —
das ist es, was dem neuesten Drama noch mangelt.
Warum ist man nun nicht alsbald in dieser Richtung
weitergegangen? Ja ... wird man nicht sagen dürfen: weil
man über die Stimmung hinaus im allgemeinen noch nichts
Festeres zu geben hatte? Es ist kaum zu bestreiten: die ge¬
wünschte, die notwendige Weltanschauung war nicht vorhanden!
Allein etwas besaß man doch, gleichsam einen Anfang zu
ihr: die naturalistisch=impressionistische Strömung hatte zunächst