VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1899–1902, Seite 7

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2. Guttings
hört und gesehen, Künstler
über die Schwelle emporzuturnen. Die Blasen sprechen für
ene Künstler zumal, die mit
sich selbst. Der Dichter spricht nicht für sie. Er macht
welt nur in den spärlichsten
keinen Bericht. Er legt nur sein Ohr an die Außenfläche
n zu Gesicht und zu Gehör
des Leutnants und horcht in ihn hinein Was er heraus¬
rechtzeitig vermerkt werden,
hört, wird wie von ungefähr zu Worten, zerhackten Nackt¬
des Montorprogramms bei
sätzen, gebrochenen Redegliedern, verhaspelten Lautzeichen.
en sind. Scmitzler ist kein
Aber der Wahnsinn, der hier im Grunde nur die normalste
Dichtungen fallen nur dort
Natur ist, hat eine verblüffend klare und wahre und gare
tsmarktlitevatur bis auf den
Methode. Man erfährt nicht nur, wie es in diesem
Gleichwohl hat gerade er
gleichgiltigen Leutnant aussieht. Man erfährt, wie es in
sgehalt der Weihnachtstage
echten und ehrlichen Menschen aussieht, wenn sie sich
ch so lebendig und doch so
plötzlich von einem tödlichen Verhängnisse unausweichlich
ihm der liebe Gott dafür
bedroht fühlen. Man erfährt, wie den Menschen über¬
d alle Engel in den Häusern
haupt zu Mute ist, wenn ihnen auf einmal eine unent¬
nmobilisieren müßte. Weil
rinnbare Todesgefahr jählings ins Auge blitzt. Solch eine
Gnaden schon ohnehin auf
Probe aufs Exempel macht der Leutnant. Der unfrei¬
und erste Recht hat.
willige Halbschlaf hat seine gewohnheitsmäßige Arroganz
stionsdrama „Der grüne
bis zur Ueberempfindlichkeit einer Briefwage gesteigert.
isten Teile des Auditoriums
In
dieser ultravioletten Gereiztheit flegelt er einen
n Erinnerung war, begann
dicken, aber energischen Spießbürger an. Der attakierte
Wiener Noveile „Lieut¬
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Spießbürger packt auf diffamierende Art den Säbelgriff
gikomischen Grundton des
des Angreifers und fügt eine unverkennbare Verbalinjurie,
eiseren Noten weiterklingen,
hinzu. In diesem furchtbaren Augenblicke fühlt sich der
Gewalten der szenischen
maßlos gedemütigte Offizier wie ein schlafwandlerisch Be¬
eine halblaute, eine un¬
täubter von innen her zu einer rätselhaften Untätigkeit
imme eines Erzählers, der
verurteilt. Er fährt dem Spießbürger nicht ins Gesicht.
chtet, um unwissentlich von
Er läßt geschehen, was geschehen will. Aber eine Minute
wußtseins Kunde zu geben.
später, da es schon zu spät ist, bricht er aus seiner kata¬
nonolog. Diese Novelle ist
leptischen Ruhe blutrünstig hervor und erkennt, daß er
Wachswalze. Die intimsten
sich nun unter allen Umständen noch in der nämlichen
ren Seelenstifts trägt sie in
Nacht erschießen müsse, um die verpfuschte Ehre zu retten.
nd Arabesken auf ihrem
Von eigenen Gnaden zum Tode verurteilt, irrt er nun
hält alle unbewußten Ge¬
mit seiner verfrühten Todesgewißheit im nächtlichen Wien
rbestimmten Situation ohne
umher, schläft auf einer einsamen Praterbank ein und
doch nicht dem kontrollie¬
wacht mit dem dämmernden Morgen in seinem Stamm¬
lich erwachten Bewußtseins
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kaffeehause auf. Wo ihm nicht ohne schlagkraftige Er¬
ant Gustl sitzt gelangweilt
götzlichkeit eine unverhoffte Rettung aus seinem entsetz¬
Mit schwerer Teusik ist die
lichen Dilemma zuteil wird. In dieser grauenvollen Nacht
Geistigkeit dieses geladenen
aber hat er alle Seelennöte eines gehetzten Menschen
r Faust auf sein primitives
durchlebt, dem der baldigste Tod zur unmittelbar drohenden
nder Spiegel rotiert es um
Selbstverständlichkeit geworden. In der Entwicklung und
schaltet sich aus. Die
Lösung dieser Seelennöte liegt die wunderbar komplizierte
kfluß. Der Leutnant denkt
und doch so wunderbar einfache Kunst des Dichters
ird gedacht.
Und nun
geborgen.
sche der Blasen, die im
Traum ist Wirklichkeit, Wirklichkeit ist Traum. Schein
stigten Menschen aufsteigen
ist Wahrheit, Wahrheit ist Schein. Das Leben aber läuft
nbewußtseins rumoren, um 1 mitten hindurch und wirkt oft gerade dort am wirklichsten,

wo es sich am traumhaftesten und unwesentlichsten geberdet.
Es hat eine Zeit gegeben, da Arthur Schnitzler diese
chinesisch=indisch=japanisch=spanische Erkenntnis als Nach¬
fahre Grillparzers immer wieder aufs neue in der unter¬
schiedlichsten Weise zu deuten liebte. Aus dieser Periode
stammt der „Gustl“, der unter saloppen Unscheinbarkeiten
die abgründigsten Tiefen bewahrt.
Als rezitatorischer Nachgestalter dieses Psychodramas
hat Max Montor eine neue Quelle seiner künstlerischen
Kraft entdeckt. Mit einer beredtsamen Verschwiegenheit,
die selten ist, ging er den sprunghaften Selbstoffenbarungen
seines kuriosen Helden bis in die winzigsten Denkschnörkel
nach. Wie die Membran eines Phonographen belebte er
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alle Furchen und Fältchen der mikroskopisch=sein be¬
schriebenen Walze. Ganz restlos kam sie ins Tönen. Und
das Echo unter den angeregten Damen seines Auditoriums
war allgemein und bedeutend. Manch schlanke Schönheit
befand sich darunter. Im übrigen mag es den Anschein
haben, daß die Montor=Matinéen in der Musikhalle zu
einer Notwendigkeit geworden sind. Fortsetzungen werden
verschiedentlich gewünscht.
Anton Lindne