VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1899–1902, Seite 8

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Sonntagsblatt des Lannoverschen Conrier.
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kennen, erst recht nicht mehr, seitdem Schnitzler in seinen neuen Werken
dramen und die Straußschen Walzer zwei der originellsten Erscheinun¬
sich mit neuen Problemen befaßt hat.
gen auf dem Gebiete der öffentlichen Kunst. In der That, die Raimund¬
Das Graziöse ist das Eigenartige der Schnitzlerschen Kunst. Er
schen Dramen sind die charakteristischen Muster einer klassisch=österreichi¬
ist wirklich ein echt österreichischer Dichter, der verwandter mit Grill¬
schen Volkskunst. Schwermuth und lachende Lebensfreude, Naturgefühl
parzer ist, als man ahnt. Allerdings ebenso schwer ist es für einen
bis zur erhabenen Begeisterung ist charakteristisch für die österreichische
Dichter mit so eigenartig einseitiger Begabung für das Gefällige, sich
Kunst. Halm, Grün. Lenau sind echt österreichisch in ihren Vorzügen
von feuilletonistischen Oberflächlichkeiten ganz frei zu halten. Schnitzler
und Schwächen. Auch die Vorliebe Hamerlings für dekorative Wir¬
liebt die geistreiche Phrase und die konventionelle Pose. Ueber Seicht¬
kung, für Farben und große Worte ist echt österreichisch. Man veraleiche
heiten und todte Stellen setzt er mit effektvoller Geste lustig hinweg. Das
hiermit die moderne österreichische Malerei eines Klimt, die Architekturen
stimmt den Leser kühl, der tiefer blickt, mehr echte Kunst und tieferen Ernst
eines Olbrich. Ebenso gut österreichisch sei der scharfe Witz Nestroys,
erwartet.
die behagliche Satire Bauernfelds, die dramatische Wucht Anzengrubers,
Schnitzlers enges Stoffgebiet ist die Welt des Wiener Lebemannes
der sittliche Zorn Ferdinand Kürnbergers, die Erzählungskunst der Ebner¬
und der Wiener Grisette. Dies sind eigenthümlich österreichische
Eschenbach, die „Novellen aus Oesterreich“ und die „Wiener Elegieen“
Typen. Schnitzler schildert sie alle meisterhaft. Wo er das Leben an¬
Ferdinand von Saars, Peter Rosegger, Adolf Pichler, die neuesten
saßt, da entsteht Leben, und so oft uns auch der Dichter dasselbe zeigt.
Wiener Stücke und die ernstgemeinten Anfänge einer eigenwüchsigen
es steht neu und frisch vor uns. Und so zieht diese leichtlebige Welt an
Provinzlitteratur. Ich weise noch hin auf den durchaus beachtens¬
uns vorüber: die Wiener Elegants, mondaine Damen, Offiziere, Stu¬
werthen Kreis Tiroler Dichter, auf Hugo Greinz, von Schullern, von
denten, Schauspielerinnen und die „süßen Mädeln“ der Vorstadt.
Ficker. Hagenauer u. a.
Namentlich im „Anatol“ schildert Schnitzler diese Welt. Das
Auch das moderne Wien zeigt spezifisch österreichisches Wesen.
Werk enthält wohl das Früheste von Bedeutung, was Schnitzler ge¬
Aber nicht so sehr das Gesunde der Volkskunst oder einer starken, mäch¬
schaffen hat. Wir dürfen diese Szenenfolge nicht als etwas organisch
tigen Persönlichkeitskunst, sondern vielmehr das Differenzirte einer de¬
Zusammenhängendes auffassen. Es sind kleine zierliche Kompositionen,
kadenten Großstadtkunst und leise von der französischen Moderne beein¬
die je ein Liebesabenteuer des gemeinsamen Helden „Anatol“ behandeln.
flußten Kunstpoesie. Man verspürt in den Dichtungen der jungen
Eine Reihe dieser kleinen Dialoge hat dann der Dichter vereinigt heraus¬
Wiener keine Ergriffenheit, man erkennt fast nirgends eine große Welt¬
gegeben. Die Seele des Buches ist der „leichtsinnige Melancholiker“
anschauung. Bunte Stimmungen, Bilder, Phantasien, leichtgeschürzte
Anatol. Er ist der Liebhaber. Die zweite männliche Person, die in den
Verse fliehen vorüber. Eine sinnreiche und geistvolle Kunst der mo¬
meisten dieser Szenen vorkommt, ist Max, der Freund, ebenfalls eine
dernen Seele, nicht des menschlichen Gemüthes! Der fruchtbare Boden.
typische Figur Schnitzlers, die auch in späteren Dramen wiederkehrt.
auf dem sie gedeiht, ist die Ueberkultur. Diese Dichter, die mehr Kunstler
Er repräsentirt das Leben, die vernünftige Welt; jener die feinfühlige,
als Dichter sind lieben das Leben, dessen Illusionen sie durchschauen.
moderne müde Seele, das Leben in Träumen und Illusionen, in Sehn¬
Sie sind hoffnungsarm und verspüren nicht das Herannahen eines neuen
sucht und Resignation, in Selbstbetrug und Eitelkeit. Beide sind Re¬
starken Geistes, der das Leben und die Kunst wieder natürlicher ge¬
präsentanten des Skeptizismus. In den sieben Szenen sehen wir Anatol
stalten und tiefer auffassen möchte.
langsam seine Illusionen zerpflücken. Er analysirt mit grausamer
Ein Typus des hier geschilderten österreichischen Künstlers ist der
Lust seine schmerzlichen Empfindungen. Vor großen Entschlüssen, vor
Wiener Dramatiker und Novellist Arthur Schnitzler.*) Er ist noch der am
der Wahrheit, vor dem großen Gefühl weicht er im letzten Augenblick
frischesten empfindende und am einfachsten gestaltende von den Wiener
zurück. Ein andermal ist er cynisch blasirt, gemein, dann zeigt er die
Modernen. Er ist der begabteste und erfolgreichste Dramatiker des jungen
brutale Seite seines Egoismus. Er knüpft Liebesverhältnisse mit ver¬
Oesterreichs.
heiratheten Frauen an (vgl. die Szene „Weihnachtseinkäufe“) und mit
Interesse finden dürften einige biographische Notizen. A. Schnitzler
unverdorbenen Mädchen. Diese „süßen Mädeln hai Anakol auf der
ist geboren am 15. Mai 1862 in Wien. Sein Vater war der bekannte
Vorstadt entdeckt. Schnitzler weiß diese munteren Geschöpfe mit inniger
Professor der Laryngologie. Sch. studirte Medizin in Wien, war darauf
Empfindung zu schildern. Dieser Typus erscheint vertieft in der
eine Zeit lang am Krankenhause in Wien und später an der Poliklinik
Christine der „Liebelei“. In der Darstellung zeigt Schnitzler vornehme
thätig. Seit etwa zehn Jahren lebt er als praktischer Arzt in Wien.
Zurückhaltung, eine naive Freude am bunten Liebesspiel, die niemals
Er hat seit frühester Jugend geschrieben. In die Oeffentlichkeit ist er
lüstern ist.
erst spät getreten. Die ersten Novelletten, Gedichte, Dialoge veröffent¬
„Das Märchen“ ist ein Thesenstück. Ideen verleiten häufig zu
lichte er 1886 und 1889 in der damals in Wien
konstruirter Charakterentwickelung im Drama. Das ist hier der Fall.
„An der schönen blauen
erscheinenden Halbmonatsschrift:
Die Menschen bewegen sich wie Schemen. Der Träger der Idee ist der
Donau“. Seitdem hat Schnitzler mit mehreren Schauspielen:
Künstler Fedor Denner. Dieser will das „Märchen von der Gefallenen“
„Das Märchen“, „Liebelei“, „Freiwild“, „Das Vermächtniß“, „Der
beseitigen. Aber an sich selbst muß er erfahren, daß die Liebe trotz aller
grüne Kakadu“ u. a., namentlich auch mit der Szenenfolge: „Anatol“
Ehrlichkeit über die dunklen Punkte im Leben der Geliebten nicht hinweg¬
wechselnden Erfolg gehabt. Seine Stücke sind besonders am Burg¬
kommt. Trotzdem ist Denners Umwandlung zu Ungunsten seiner Ge¬
theater, am Berliner Lessingtheater und Deutschen Theater aufgeführt
liebten nicht glaubhaft dargestellt. Dieser Denner ist nach den ersten
worden.
Akten durchaus nicht der Schwächling, als den ihn der Dichter später
Nicht alles, was Schnitzler geschrieben hat, ist werthvoll. Als
haben möchte. Das ist der große Riß in dem Drama. Im übrigen ist
Höhepunkte seines bisherigen Schaffens möchte ich einige Szenen aus
die Technik schülerhaft. Was wollen die ganzen Familien, die Gruppen
dem „Anatol“, „Liebelei“ und die Novelle „Sterben“ bezeichnen. Neue
und Parteien nur auf der Bühne anfangen?
Wege scheint er in den drei letzten kleinen Dramen: „Das Märchen des
Schnitzlers Meisterstück ist „Liebelei“. Auch der ernste Nord¬
Paracelsus“ „Der Gefährte“ und „Der grüne Kakadu“ einzuschlagen.
deutsche, dem dauernd das Wesen dieses Dichters kaum sympathisch
Hermann Bahr hat das bisherige Schaffen Schnitzlers in seiner Schrift:
bleiben wird, wird für eine so liebliche, mädchenhafte Gestalt wie die
„Studien zur Kritik der Moderne“ (Band I, Verlag von Rütten u. Loe¬
Christine immer eine ehrliche Bewunderung haben. Die Fabel des
ning, Frankfurt) vortrefflich charakterisirt: „Schnitzler hat wenig. Er
Stückes ist bekannt. Fritz Lobheimer und Theodor Kaiser, Christine
muß sparen. So will er es denn mit der zärtlichsten Sorge, mit erfinde¬
Weiring und Mizzi Schlager sind Wiener und Schnitzlersche Typen.
rischer Mühe, mit geduldigem Geize schleifen, bis das Geringe durch seine
Liebhaber und Freund sind auch hier die Hauptpersonen. Aber auch
unermüdlichen Künste Adel und Würde verdient. Was er bringt, ist
der Freund hat hier eine Geliebte. Diese, Mizzi Schlager, ist das
nichtig. Aber wie er es bringt, darf gelten. Die großen Züge der
schneidige, fesche Wiener Mädl, sie ist „Modistin“, das Verhältniß
Zeit, Leidenschaften, Stürme, Erschütterungen der Menschen, die unge¬
comme il faut. Nicht mit Unrecht hat man Christine neben Halbes
stüme Pracht der Welt an Farben und an Klängen ist ihm versagt.
Annchen gestellt. Sie ist das naiv liebende Mädchen mit der reinen
nur ein
Er weiß immer nur einen einzigen Menschen,
Seele. Ihre erste Liebe muß ihr zum Verhängniß werden. Sie weiß
einziges Gefühl zu gestalten. Aber dieser Gestalt giebt
ja nichts von der Welt, sie nimmt alles so ernst. Fritz Lobheimer hat
er Vollkommenheit, Vollendung. So ist er recht der artiste nach dem
ein Liebesverhältniß mit einer verheiratheten Frau. Während dessen
Herzen des „Parnasses“, jener Franzosen, welche, um den Werth an
lernt er Christine durch ihre Jugendfreundin Mizzi Schlager kennen.
Gehalt nicht bekümmert, nur in der Fassung Pflicht und Verdienst der
Immer mehr beiaubert ihn das frische, innige Wesen des Mädchens.
Kunst erkennen und als eitel verachten, was nicht seltene Nuance,
Aus einer Liebelei wird eine echte tiefe Liebe. Da plötzlich bricht das
malendes Adjektiv, gesuchte Metapher ist.“ Nicht ganz zutreffend ist
Verhängniß herein. Der betrogene Ehemann hat von dem Ehebruch er¬
dieses Urtheil, schon seitdem wir die wundervolle Mädchengestalt
fahren. Fritz wird im Duell erschossen. Als Christine erfährt, daß
Christine („Liebelei“), eine dichterische Schöpfung ersten Ranges,
der Geliebte um einer anderen willen in den Tod gegangen ist, daß er
*) Sämmtliche Werke sind im Verlage von S. Fischer, Berlin, erschienen. I schon begraben ist, ohne daß sie davon erfuhr, stürzt sie sich ins Wasser.