VI, Allgemeine Besprechungen 1, F. O. Schmid A. S. und die Jung Wiener Schule, Seite 2

—.—
box 36/3
PamphletsOffnrints
stimmten Punkt hinweisende Linie und die pathetische, weitausholende
Geberde, wie sie etwa in Schillers Dramen zutage tritt. Dazu ist Wien
nicht der Boden, dafür ist in der unvergleichlichen Donaustadt nicht der
Dunstkreis vorhanden. Dort, wo alles sich in eine weiche Anmut auflöst,
wo das Leben so unendlich leicht dahinfließt, daß man das Treiben auf
seinen silberschimmernden Fluten kaum verspürt und nur hin und wieder
wie von ferne die Abgründe des Daseins sich öffnen sieht, wo so gar nichts
Hartes, Brutales und Unschönes sich in den Vordergrund drängt, mußte
eine andere Welt von Poesie entstehen als die eines „Lear“ und eines
„Richard III.“, eines „Götz“ und eines „Tell“ der „Hermannsschlacht“
und der „Nibelungen". Dort, in der Stadt des verschwimmend Sehn¬
süchtigen und tiefblau Träumerischen, der leichtsinnigen Melancholie und
des schalkhaften Ernstes, der halben Gefühle, lauen Stimmungen und in¬
einander zerfließenden, nachdenklichen Regungen, mußten sich auch die
Wurzeln zu einer Poesie finden, die diesen Verhältnissen adäquat ist,
einer Poesie, die nicht im Leben und den Geschicken der Gesamtheit, son¬
dern im Individuellen, im Einzelschicksal ihren Ursprung hat. Die Poesie
der „Jung=Wiener“ ist die Poesie des Psychologischen, der innersten See¬
lenzustände, der feinsten Stimmungen und Nervenreizungen. Ihr Cha¬
rakteristikum ist die Analysierung der Psyche in ihren eigentümlichsten
Regungen, das Aufdecken der letzten Triebfedern menschlichen Wollens
und Handelns, das oft selbst vor dem Krankhaften und Absonderlichen
nicht Halt macht. Man denkt bei diesem halb beschaulichen, halb quälen¬
den, beständig in sich selbst Heruntersteigen, diesem Zerlegen und Zer¬
setzen der Seele, dem halb neugierigen, halb mißtrauischen Nachschleichen
hinter den eigenen und fremden Gedanken, Worten und Taten, das im¬
mer nach den letzten Gründen forscht, immer ein „Warum?“ auf der
Zunge und ein „Wieso?“ im Gehirn hat, unwillkürlich an die Franzosen,
an Flaubert etwa, die Brüder Goncourt, Baudelaire, Maupassant und
andere, und man würde einen französischen Einfluß vermuten, wenn nicht
das Wienerische selbst soviel Verwandtes mit gallischem Wesen und
gallischem Esprit hätte. Kommt zu dem allem noch eine kolossale Kultur
der Form, eine Kunst der Sprache, wie sie sonst in germanischen Landen
kaum zu finden ist, so haben wir ungefähr die charakteristischen Kenn¬
zeichen der „Jung=Wiener=Schule“.
Ihre beiden hervorstechendsten Repräsentanten sind: Arthur
Schnitzler und Hugo von Hoffmannsthal. Hoffmannsthal
ist, namentlich seit der Vertonung seiner „Elektra“ durch Richard Strauß
vielleicht der bekanntere. Der echtere und bedeutendere aber ist Schnitzler.
Hoffmannsthal ist ein großer Virtuos, ein glänzender Wortspieler und
Formkünstler, dem namentlich auch in seiner Prosa wundervolle Einzel¬
heiten gelingen. Das gilt nicht weniger auch von Schnitzler, nur daß die¬
64