VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Alfred Kerr Dramatiker, Seite 3


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1. Pamphlets Offorints
Dieser Sattler äußert, nicht unsymmetrisch: „Das Große zu hassen ist
mir nun einmal nicht gegeben (auch wenn ich verspüre, daß es mich vernichten
kann). Und die Kleinen zu lieben, will mir nicht gelingen (auch wenn mein
Geschick mit dem ihren verbunden ist)“. So jener Sactler.
Dann spüllt ein Akt auf einem Friedhof, „darüber blaßblauer Himmel mit
weißen Wolken“. Es ist vom Arthur.
Zuerst blickt man immer befremdet auf den Umschlag mit dem treuherzigen
Geschütz und denkt: er wird doch nicht zur Gegenpartei hinübergedichtet
haben? Aber darauf sagt man sich, sobald Eschenbacher, der Onkel des Helden,
angefangen hat: Ah, nein, Schnitzler sorgt schon dafür, daß keine schlampeten
Irrlehren aufkommen; er stehr auf der linken Seite; er dichtet empfindungsvoll,
aber radikal, — und es ist ein Verlaß auf ihn.
Ein Student äußert, der Begeisterungslärm im Krieg sei „verschlagene
Angst“; ehrlich wie der arme Mann im Tockenburg bei Roßbach; wie die Szene
der homburgischen Todesfurcht, um deretwillen Kleist so angesehen bei der israe¬
litischen Bevölkerung dasteht — denkt man. Und alles dies nur ein Teilchen
der Luftwitterung. Man sieht ein Vulksstück . .. doch mit Aufsässigkeit in der
Lehre. Die Lehr' ist kurz — das Vulksstück lang. Bisweilen erinnert man sich
des Egmont; der Wirren in der Education sentimentale. Nun kann man im
Präzisen, Schlagenden Ewigkeitswirkungen haben, doch ich finde sie hier nicht.
Vielleicht unmöglich sie zu finden, wenn einer die wirkliche Bevölkerung der
Stadt Wien darstellt.
Aber an die Grenze dieser Dinge kommt manches. Wenn über Medardus
im Glück ein Schimmer weht von der Gleichgültigkeit gegen jegliches Schicksal
anderer... Wenn durch alles Unglück ein Schimmer weht, wie wunderbar es
ist zu armen. .. Wenn etwas dämmert, als ob's bisweilen gar nicht auf gutes
oder schlechtes Geschick ankomme (links und rechts werden Menschen gemähr,
Freunde, Wackre, auch liebstille Gestalten, Unschuldige) — sondern darauf, daß
dieser ganze Betrieb da ist. Daß man den Zauber mitmachen darf. Auch mit
dem Enrreebillett zur Qual, möcht' ich sprechen ...
Dergleichen erahnte Züge scheinen mir wertvoller als anekdotische. Ein anek¬
dotischer ist in dem uralten Herrn, dessen Mutter vor neunzig Jahren starb,
dessen Vater vor siebzig, — so daß man der burgraves von Viktor Hugo ge¬
denkt, wo gar ein Hunderkzwanzigjähriger zu einem Neunzigjährigen sage:
„Taisez-vous, jeune homme!“ Darüber hinaus etliches farbgekönt; lecker in der
Mischung; Helene von Valois kaltheroisch, zweckvoll, . . . und doch mit der
Sehnsucht, es, es, es zu kun. Hart hierbei Romantisch=Literarisches im Verhält¬
nis zu dem Wiener Bürgersohn, den sie erwas haßliebt, nachdem er (seinerseits)
am Grabe der Schwester, nicht ohne gedruckten Anstand, sich gegen sie feind¬
selig=feurig, doch nobel geäußert...
1773