VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Alfred Kerr Dramatiker, Seite 4


box 36/4
Pamphlets offorints
Der Mensch in der Mitte, Medardus, wirkt in holder Jugend wie ein Herr
von Hamlek'l. Er tut seine Tat nicht. Er will die Schwester am Hause Valois
rächen: und wird der Sklav einer Valois. Er will Vater und Onkel an Bona¬
parte rächen: und schützt Bonapartes Haupt. Zur Buße besteht er auf seiner
eignen Hinrichtung.
Für dies Weibsbild ist Liebe vorübergehender Zweck, für dies Mannsbild ist
sie der Inhalt des Lebens. (Sonst meistens umgekehrt.) Eine Sprechweise
manchmal aus dem achtzehnten Jahrhundert; aber nicht wie die Menschen
sprachen, sondern wie die Menschen schrieben. (Die Sprechrede, scheint mir,
war damals von der Schrift ferner als heut, im Zeitungsalter.) Alles umständ¬
lich. Ist es ein Jugendroman von Schnitzler, überarbeitet? Manchmal ist es
eine jungitalienische Oper. Manchmal von Nieritz: ein Schandbube bekommt
was mit der Hundspeitsche von den braven Leuten, der alte Gott lebt noch,
das geschieht ihm ganz recht, dem gemeinen Kerl, dem. Ist es wirklich vom
Arthur?
Sehr gut Geköntes. Doch zu reichliche Umstände. Die Lehr' ist kurz, das
Vulksstück lang.
III.
Kch gab den Medardus frei. Er war ausgesogen ... Ich ließ ein
∆ andres sachte, sachte hervor, setzte mich drauf, es war das weite Land,
ganz fest. Kein Punkt zum Packen. Alles vollzieht sich plan. Zivilisierung.
(Am Anfang und am Ende Schießereien; man sieht sie bloß nicht.) Es
scheint ein Gesellschaftsstück zu sein . . . und ist in mancher Hinsicht gleich¬
wohl ein Menschenstück. So geweitet sind unsre Seelen. Soviel umfassen
sie dicht nebeneinander von Dem, was nach alter Mathematik unvereinbar
däucht.
In dieser Art. Die Hüllen fallen. Sind vier Jahrrausende sittlichen
Turnens umsonst gewesen? Haben sie keinen Erfolg erziele? Oder heißt der
Erfolg: daß man nicht kurnen soll? Daß man zur Zeit Shakespeares und
Elisabechs zwar die Gabel nicht kannte: daß aber Spargel heut mit der Hand
gegessen, etwas andres bedeutet, als es dazumal gewesen wäre . .. (denkt man).
Oder daß es nicht mehr die Urwildnis gibe, jedoch nach allerhand staatlichen
Ordnungen, Zäunungen, Bosketten wieder ein Stück Rousseau, . .. welches
nicht dasselbe wie die Urwildheit ist (denkt man). Die Wiener, am Ende:
die Menschen, bei Schnitzler, leben keinesfalls roh, sondern sie fangen an, ge¬
wisse Leckerbissen wieder ungekocht zu schlucken ... (denkt man). Wölfe, die
jahrtausendelang den Maulkorb getragen, die dürfen, Hunde geworden, schon
ohne solchen . .. selbst einmal zuschnappen. Noch verhehlen sie, daß dieser
Draht oder dies Leder nur so aussieht, als ob sie nicht zuschnappen könnten ...
denkt man.
1774