VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Adelt, Seite 1

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1. Panphlets offprints
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Das wahre Gesicht von Leonhard Adelt
ar Halbes Drama „Das wahre Gesicht“ hat fünf Akte und ein Vor¬
spiel. Das Vorspiel ließ man — unbeschadet des Zusammen¬
** hangs — bei der viereinhalbstündigen Erstaufführung am Deutschen
Schauspielhaus zu Hamburg weg, und jetzt hat sich der Dichter, nach dem
Mißerfolg des Abends, zu starken Strichen in den beiden letzten Aufzügen
entschlossen. Ich habe das gekürzte Drama noch nicht zu Gesicht bekommen,
ich glaube ohne weiteres der Versicherung, daß die Striche die theatralische
Wirkung der Schlußakte retten, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß
eine eilige Korrektur das entgleiste Ganze in dramatische Bahnen zurückleitet.
Intensive Erlebnisse, wie sie sich in „Frau Sorge“ oder in der „Jugend“
niedergeschlagen haben, wiederholen sich nicht. Wer nicht, gleich Goethe,
seine Entwicklung in immer neuen Iutensivitäten wirksam macht, verarmt
künstlerisch und läuft vor sich selbst Gefahr, mit dem Abklatsch jenes ersten
Niederschlags neue Stadien vorzutänschen. Die Dichter der „Frau Sorge“
und der „Jugend“ gehören zu denen, die nicht mehr erleben. Halbes jüngstes
Drama „Das wahre Gesicht“ strebt seinem ideellen Wesen von zwei wesens¬
verschiedenen Ausgängen zu: von der Historie und von der philosophischen
Abstraktion aus. Weder Historie n.ch Philosopbie sind an sich dichterisches
Erlebnis, aber“ fino Formen, in denen es zu sich kommen kann. Max
Halbe hat iso „## Tirmen bei der Hand, hat die Autosuggestion eines
Erlebnisses und belbet sich nun alles Ernstes ein: eine Illusion, in zwei
Realitäten gegossen, ergebe eine dramatische Einheit.
Es ist zu beweisen, daß diesem Drama die Seele, nämlich die voetische
Intuition, abgeht, und es bedarf dazu der Untersuchung, wieweit es von
seinen beiden Grundfaktoren aus zu einer ideellen Einheit, die man mit der
künstlerischen Wahrheit identisch setzen darf, vorgedrungen ist. Die Historie
und es tut wenig zur Sache, ob sie der Vergangenheit nacherzählt oder
im Geiste einer Vergangenheit fingiert ist, denn im Drama ist letzten Sinns
alles fingierte Historie — liefert Halbe das Rohmaterial folgender Zustände
und Geschehnisse: Mittelalter=Wende. Katholizismus und Reformation.
Renaissance und Humanität. Polentum und Deutschtum. Andreas Zieren¬
berg, Verteidiger der freien deutschen Reichsstadt Danzig, tritt in hoch¬
verräterische Unterbandlung mit dem polnischen Feinde. Gründe, Gründe!
Es sind keine Gründe, außer im Menschen selbst. Darum kann uns auf
die Frage nach ihnen nicht die Geschichte, sondern nur der Dichter, als der
Stellvertreter der historischen Persönlichkeiten, der Biograph an Stelle des
Autobiographen, Antwort geben. Halbes Antwort lautet: aus Ehrgeiz.
Sie verstärkt sich: aus seines Weibes Ehrgeiz. Sie kompliziert sich: aus
seines Weibes Haß ... Aus seinem Ehrgeiz, denn Andreas Zierenberg
ist gemeiner Herkunft und stieg hoch. Da sich der danziger Patrizierssohn
Sebald Meinerts und der Bauernoub Andreas zum letzten Mal gegenüber¬
standen, hatten sie den Plebejer mit Schimpf und Schande aus der Stadt
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