VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Bühne und Welt, Seite 14

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1. Pamphlets Iforin s
Bühne und Welt.
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„wirklich so ist“ oder nur spielt, worauf ihn ihr gequälter Liebhaber belehrt:
„Sein ... spielen ... kennen Sie den Unterschied so genau?“ Und dann hebt sich
aus der allgemeinen Groteske die knappste Tragödie. Henri, der junge Ehemann,
spielt den Mörder aus verratener Liebe. Und gibt ihn aus seiner Seelenangst
heraus so wahr, daß man das Spiel für Wahrheit zu halten beginnt, zumal man
weiß, wie sehr die Doraussetzung zu diesem gespielten Alorde am Herzog von Cadignau
stimmt. Und als nun in die Komödie die Kunde vom Fall der Bastille hereinbricht,
und als der Wirt, nunmehr von der Angst um die gerichtlichen Folgen des Mordes
befreit, den Unglücklichen zu seiner Tat fast beglückwünscht, da erkennt Henri, wie
nahe sein Spiel der tatsächlichen Wahrheil kam, und jetzt macht er es ganz wahr,
indem er den Herzog erdolcht. Das Ganze ist eine völlige Illustration des
Paracelsus=Wortes: „Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge.
Sicherheit ist nirgends.“
Aber zugleich ist dieses Meisterstück noch etwas anderes als ein pspchologisches
Phantasiespiel; es malt die Zeitströmung der Revolutionszeit so treffend, daß es
auch ein wohlgelungenes Geschichtsgemälde ist. Und auf diesem historischen Wege
ist Schnitzler nun im „jungen Medardus“ fortgeschritten, vielmehr, er hat den vorher
nur zufällig berührten, nun mit Entschiedenheit betreten. Als Dramatiker war er
in diesem Beginnen noch nicht sonderlich glücklich. Das erotische Erleben seines
#felden, der wieder in Schnitzlerscher Art zwischen Tatendrang und Reflexion
schwankt, drängt sich oft ungebührlich vor, und mehr als einmal streifen Sprache
und Handlung wie beim „Ruf des Lebens“ an die Schauerballade. Aber wie sehr
hat es der Dichter verstanden, das Wien der napoleonischen Zeit zu malen. In
dem Dorspiel besonders und in mancher scheinbaren Nebenszene dieser „dramatischen
Historie“ erkennt man das Gestalten eines großen Dichters, der Vergangenes zu
beleben weiß. Und nun meine ich, Schnitzler dürfte auf dem historischen Wege
fortschreiten, weil dieser für ihn ein „Weg ins Freie“ werden kann. Der Dichter
hat sich, seiner Natur gemäß, lange Zeit ganz an das Individuelle hingegeben,
allen allgemeinen roblemlösungen sorgsam aus dem Wege gehend. Er hat sich
dabei mehrfach mit Notwendigkeit ins Allzu=Einzelne, ins Spitzfindige verloren. Er
brauchte ein Gegengewicht, eine Basis, etwas allgemeines, in dem er das Einzelne
verankern kann. Wo fände dieser objektivste Grübler besseren Ackerboden, als in
der ausgebreiteten Vergangenheit, eben im Historischen?
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