VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Bühne und Welt, Seite 13


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1. Panphlets, Offprints
Bühne und Welt.
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rausch zu bergen scheint. Sodann erhöhte er noch diesen Taumel durch sein bestes
Rauschmittel, den Tod. Mit erdrückender Uebermacht zieht der Borgia gegen Bologna
heran, morgen wird er Sieger sein und Nächer und Henker. So wollen denn alle
den letzten Tag genießen und tun es in Haß und Liebe, mit all der Starknervigkeit,
die man den Renaissancemenschen nachsagt. Schnitzler hat in dem breiten, aber nie
zerfließenden, immer bewegten, immer vorwärts drängenden Nebenbei und Rund¬
herum der Handlung eine unerhörte Glut und Wildheit entfaltet und ihr im musi¬
kalischen Ders wahrhaft edle Sprache verliehen. In dieses lebenstolle Gewimmel
stellt nun der Dichter zwei gegensätzliche Männer, den Grübler und Dichter Filippo
und den Herzog und Kriegsmann Lionardo, und zwischen beide die lieblichste Rätsel,
gestalt, die kindlich verträumte Beatrice, die den Dichter liebt und doch in ihren
Träumen sich zu dem Tatmenschen hingezogen fühlt. Filippo geht an der Genu߬
unfähigkeit, an dem Schwanken seines zerrissenen Wesens zugrunde und reißt die
Geliebte, die er selber zum Treubruch drängte, in sein Verderben hinein; der Herzog,
nach tragischem Erleben dem sicheren Schlachtentod entgegenschreitend, fühlt sich
dennoch nicht als Sterbender, ist imstande, die Schönheit der letzten Lebensstunden
völlig zu genießen, da er immer nur an der Intensität des Daseins gehangen hat.
Die gleiche künstlerische Dollendung hat Schnitzler im zeitfernen Spiel mehrfach
das gleiche Umfassen weder vor= noch nachher erreicht. Im „Schleier der Beatrice“
hat er sein ersehntes Ich, den Tatmenschen, gerade so trefflich gezeichnet, wie sein
tatsächliches, den Grübler. Ueberall anders ist doch dies tatsächliche, dies zerrissene
Ich besser fortgekommen. Freilich erhöhte Schnitzler im „Paracelsus“, wo er dem
eigentlichen Tatmenschen Cpprian eine töricht plumpe Rolle zuwies, den schwan¬
kenden Grübler derart, daß doch fast ein Tatmensch aus ihm wurde. Denn Para¬
celsus, der nicht nur in sich unsicher, sondern zugleich überzeugt ist von der Un¬
sicherheit alles Bestehenden, von dem ewigen Schwanken der Grenze zwischen
Wahn und Wahrheit, Traum und Wachen, zieht die praktischen Folgerungen
aus dieser Kenntnis; er nimmt bewußten Einfluß auf das Fühlen der andern und
wird so selber zum Handelnden. Aber auch hier erweist sich doch schließlich die
Macht des Elementes stärker als der Feuerwerker selber; Paracelsus steht der
hypnotisierten Justina staunend gegenüber und weiß nicht, ob sie eingeimpfte Lüge
oder Wahrheit spricht. So ist das anmutige Stück — denn anmutig bleibt es trotz
aller gedanklichen Beschwerung — eigentlich weniger ein Drama als ein Experimental¬
kolleg der Ofrhologie, in dem der Dortragende bei einem beklommenen: „Ich weiß,
daß ich nichts weiß“, endet.
Es ist, als trete man zur Anwendung und Nachprüfung das im „Daracelsus“
Gelernten aus dem Hörsaal und Laboratorium ins Leben selber, wenn man die mit
dem „Paracelsus“ gleichzeitig veröffentlichte, grandiose Groteske, den „Grünen Kakadu“,
betrachtet. Hier rückte der Dichter eng an die Gegenwart heran, bis zu ihrem Tor
gewissermaßen, denn das Stück spielt am 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillen¬
sturms. Im „Grünen Kakadu“ einer Schenke, verkehrt der beste Pariser Adel mit
Dorliebe; er kann dort, ermüdet von feinen Genüssen, schärfere Sensationen ge¬
fahrlos auskosten. Denn in dieser Spelunke trifft man allerhand Gesindel, das sich
seiner Diebs= und sonstigen Taten rühmt. Die Verbrecher aber sind in Wahrheit
Schauspieler und nur die Dirnen sind echt. Doch auch sonst mischt sich viel Wahr¬
heit in das tolle Spiel. Wenn die Leute unter dem Schutz ihrer Rolle das adlige
Dublikum beschimpfen, so geben sie ihrer Herzensmeinung Ausdruck, wenn sie von
Einbruch und Mord fabulieren, so gestalten sie ihre Sehnsucht. Und gerade an
dem von Schnitzler mit Meisterhand geschilderten Abend mischen sich Spiel und
Wahrheit unlöslich. Die edle Marquise findet sich so völlig in die Dirnenatmosphäre
der Schenke, daß der unerfahrene Chevalier gar nicht mehr weiß, ob die Dame