VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Hanns Sachs Imago, Seite 13

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1. Panphlets fprints
Die Motivegstaltung bei Schnitzler
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Die Erklärung, die Poeten und Philosophen am häußgsten
nt,
geben, schreibt der grundsätzlichen Verschiedenheit der beiden Ge¬
schlechter in dem, was ihnen die Liebe bedeutet, die Schuld zu. se
tiefer und wahrer die Neigung ist, desto deutlicher wird sich in ihr
die Grundart des eigenen Geschlechtes bei beiden Liebenden offen¬
baren, statt sich zu vereinigen, müssen sie immer deutlicher die
Tiefe des Abgrundes fühlen, der sie auseinanderhält, und nach der
kurzen Seeligkeit des Findens einander für alle Zeiten verlieren.
Seltener findet sich eine zweite Deutung, die mit der ersten
übrigens sehr wohl vereinbar ist. Sie geht davon aus, daß die Liebe
als eine recht komplizierte Angelegenheit gelten darf, da sie die
ganze, vielfältig gespaltene Persönlichkeit des Menschen umfassen
und ausfüllen kann, muß sie wohl von allen Kraftquellen her, die
in seiner Seele entspringen, von allen seinen Instinkten und Trieben
Unterstützungen an sich gezogen haben. Hinter der Zärtlichkeit
stehen die anderen, minder geistigen Anteile des Geschlechtstriebes,
dann aber auch Herrschsucht und Eitelkeit, Selbstopferungs- und
Unterwerfungslust und vieles andere. Bis zu diesem Punkt vermag
auch die gewöhnlichste Beobachtungsgabe leicht mitzugehen. Was
aber nur die wenigen 2Kenner der Höhen und Tiefens ausge¬
sprochen und gestaltet haben ist die Tatsache, daß sich mit der Liebe
auch ihr vollkommenes Gegenteil gerne verschwistert: der Haß.
Daß Liebe und Haß, nicht eines dem anderen nachfolgend oder
miteinander abwechselnd, sondern gleichzeitig und miteinander
hausend, in einer Brust wohnen können, scheint der vollkommenste
Widerspruch. Wo geniale Schöpferkraft einen Zwiespalt dieser Art
in einer Gestalt verkörpert hat, da entstanden jene Rätselwesen wie
Hamlet und Penthesilea, an deren Verständnis der Witz der
Asthetiker und Psychologen verzweifelt. Wer freilich gelernt hat,
mit dem bewußten auch ein Stück vom unbewußten Seelenleben zu
sehen, weiß, daß Liebe ohne Haß, Haß ohne Liebe weit seltener
anzutreffen sind als beide verbunden, wenn auch meist nur einer
von ihnen sich im Licht des Bewußtseins sonnen darf, während der
andere in der Tiefe wirkt und harrt, ob nicht einmal die Stunde
seines Aufstieges komme, In solchen Fällen sind die beiden Affekt¬
gegensätze zwar in einer Person vereinigt, aber durch die Schranke,
die zwischen Bewußtem und Unbewußtem aufgerichtet ist, hinreichend
geschieden, um den Zustand erträglich zu erhalten, nur wenn eine
äußere oder innere Veränderung dem Verdrängten den Weg zur
Herrschaft freizumachen scheint, beginnen die Kämpfe und Konflikte.
In jenen selteneren Fällen, wo die beiden unversöhnlichen Gegner
ganz oder teilweise bewußt geblieben sind, ist Friede und Ruhe ver¬
loren. Ein unaufhörlicher Kampf reißt den Unglücklichen zwischen
zwei Extremen hin und her, so daß er sich und den anderen in seinem
Fühlen unverständlich, beinahe entrückt scheint. Zwei Ausgänge sind
möglich: Entweder der eine Kämpfer erweist sich überlegen und
verdrängt den anderen vom Schauplatz oder die Natur verweigert
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