VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Hanns Sachs Imago, Seite 12


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1. PampiS
Hanns Sachs
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griechische Tänzerins gewählt, die alle für das Opfer eines Herz¬
schlages halten, nur der eine, der sie ohne Glück geliebt hat, ahnt,
daß sie dem untreuen Gatten, für den sie gestorben ist, noch die
Gewissensbisse wegen ihres Selbstmordes zu ersparen suchte, wie
die Hofrätin ihrem Sohn. Im rSchleier der Beatrices läßt Filippo
seine Geliebte glauben, er habe ihr heimlich Gift ins Glas gegossen,
wie es Alfred im „Mördere tut, um sie zu erproben, ehe er mit
ihr in den Tod geht. Ein letzter, humoristischer Ausläufer dieser
Vergiftungsepisode ist die Idee des Albertus Rhon im „Zwischen¬
spiel: =Du beschenkst mich mit einem Schluß zu unserem gestrigen
Stück. Ich danke. Der ist mir zu abgeschmackt — den glaubt kein
Mensch. Ich habe einen viel besseren: Du wirst vergiftet — ja.
Von einer ganz neuen Figur: einem
Und weißt du, von wem?
dir unbekannten Liebhaber deiner Frau.& Fast überall finden wir,
soweit die Details überhaupt ausgeprägt sind, zwei gemeinsame
Hauptmerkmale: Daß das Gift im Schlaftrunk genossen wird und die
Absicht, einigen oder allen ein natürliches Ende vorzutäuschen, gelingt.
In den meisten Fällen wird das Gift von dem Geliebten dar¬
gereicht, sei es nun direkt oder so, daß er nur der Anlaß, nicht der
Täter ist. Zweimal sterben Eltern durch die Kinder, einmal ein Vater
von der Hand der Tochter, einmal eine Mutter für ihren Sohn.
Wir dürfen uns nicht in Vermutungen verlieren, welche Ge¬
stalt die ursprünglichste war, es ist sehr möglich, daß keine von
diesen darauf Anspruch erheben kann, daß jede nur ein Stück
aufbewahrt und alles übrige entstellt hat. Die Gewißheit, die wir aus
diesen. Material gewinnen können, reicht nur soweit wie die Über¬
einstimmungen. Um das andere zu erschließen, müßten wir ein Stück
Kenntnis einsetzen, das nicht aus der Literatur geschöpft worden ist.
Was ist die Liebe, sag?
Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.
Kann der Trieb, der den Menschen bewegt, sich aufzugeben,
sein Schicksal an die Gefühle eines anderen zu ketten, jemals völlige
Befriedigung finden? Kann es gelingen, dauernd alle Winkel und
Heimlichkeiten einer fremden Seele zu durchdringen und sich selbst
ihr ebenso völlig aufzutun? Nur die flachste Schönfärberei, die den
Blick in die eigenen Seelenkämpfe scheute, konnte diesem geträumten
Ziel aller Liebe irdische Wahrheit und Verwirklichung leihen. Die
tiefen und schöpferischen Geister haben von Plato an, der seinen
Sokrates sich der Gabe berühmen läßt, überall einen Liebenden
und einen Geliebten zu erkennen, bis zu Dostojewsky ein uner¬
bittliches Nein gesprochen. So gleichmäßig ihre Antwort klang, so
verschieden war die Begründung, wer sie aus ihren Werken heraus¬
zulesen vermag, ist der wesentlichen Wurzel ihrer Persönlichkeit in
der Erkenntnis ein bedeutendes Stück näher gekommen.


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