VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Reik zwei Texte Imago, Seite 20

1. Panphlets, offprints
mehr existieren werden, tragisch enden müssen, wenn ein
anständiger Mensch hineingerät.e Das Verlogene unseres
Familienlebens wird von dem Gesellschaftskritiker Schnitzler
oft (z. B. in =Komtesse Mizzig) mit starkem Griff ent¬
hüllt. Sala sagt zu seinem Freunde, der die Frau eines
andern verführt hat: zIch finde auch, daß das Familien¬
leben etwas an sich sehr Hübsches ist. Aber es sollte
sich doch wenigstens in der eigenen abspielen.e
Namentlich das Problem der Ehe reizt Schnitzler immer
wieder. Das „Zwischenspielg zeigt einen solchen Lebens¬
aspekt in Verkürzung, das „Weite Landa wieder. Wie
von allen Seiten Versuchungen locken und wie gegen¬
seitiges Belügen (noch wenn man die Wahrheit sagt) die
Ehe gefährden, zeigt hier, wissend und bewußt, ergriffen
und ergreifend ein Lebenskenner. Denn was man auch
sagen mag, unsere Ehe ist eine Polygamie der Phantasie.
Albertus Rhon drückt das so cus: s den, der zu leben
weiß, erwarten alle Abenteuer, nach denen ihn gelüstet,
im Frieden seines Heimes. Er erlebt sie geradeso wie ein
anderer, aber ohne Zeitverschwendung, ohne Unannehm¬
ichkeiten, ohne Gefahr, und wenn er Phantasie hat, bringt
ihm seine Gattin, ohne daß sie es ahnt, lauter uneheliche
Kinder zur Welt.e
Ist dieses Aufdecken der tiefen Unsicherheit mensch¬
licher Beziehungen nicht auch ein Kämpfen in dem großen
Kampf der Zeit? Wird eine Aufführung der „Liebeleie
nicht mehr Erschütterung in den Kreisen junger Leute
hervorrufen als die Statistiken sämtlicher Vereine für
Mädchenschutz — weil sie im engsten Rahmen der Mensch¬
heit ganzen Jammer zeigt; weil sie ergreifend künstlezisch
gestaltet, was jene mühsam zu beweisen suchen?
Auch Schnitzler gehört zu den Vorkämpfern einer neuen
Moral, wenn er auch nicht mit Kolophoniumdonner arbeitet
und Gefühlausbrüche in die Auslage legt. Das Gefühl, das
etzten Endes bei Schnitzler den Frauen gegenüber bleibt,
ist das eines tiefen Mitleids. (Das ist nun freilich nicht
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gerade die Sehnsucht starker lebensfroher Frauen, zbemit¬
leidenswürdige befunden zu werden. — Noch dazu von
Männertypen, die der Frau gegenüber über eine gewisse
egoistische infantile Einstellung nicht ganz hinwegkommen,
ihr gegenüber nie ganz Männer werden, in ihr immer nur
die Bescheidenheit und Resignation der Mutter suchen.
Die Red.) Denn sie sind am Ende die Betrogenen; sie
spüren am eigenen Körper den wildesten Schmerz des
Gebärens, während der Mann kühl und beobachtend da¬
neben steht.
Feineren Beobachtern wird aufgefallen sein, daß die
meisten Frauengestalten Schnitzlers etwas Mütterliches
haben. Im Verhältnis der Männer zu diesen Frauen liegt
etwas, daß dem des Kindes zur Mutter ähnelt. Die
Christine der pLiebeleig, die Anna des njungen Medarduse,
die des „Weg ins Freieg — sic sind seelisch Mütter, bevor
sie es noch körperlich geworden sind. Von der holdesten
Mädchenhaftigkeit umstrahlt, dem Geliebten wortlos dahin¬
gegeben, innig und zurückhaltend und bereit, der Erde
Glück, der Erde Weh für den Geliebten zu tragen, Genia
im „Weiten Landg ist um das Schicksal ihres Mannes bei
seinen Liebesabenteuern besorgt wie eine Mutter. Der
Räsonneur des Stückes, Dr. Maurer, drückt wohl des
Dichters eigene Meinung aus, wenn er äußert: DEs ist
wirklich interessant, wie Sie diese Dinge auffassen. Man
möchte fast glauben, daß Frauen, die zu Müttern geboren
sind, gelegentlich die Gabe besitzen, es auch für ihre
Gatten zu sein.e
Im Schicksal der Anna im -Weg ins Freieg zeigt sich
eben jene mütterliche Einstellung. Es ist kein Zufall, daß
eine Person des Romanes sagt, Anna sei dazu bestimmt,
im Bürgerlichen zu endigen.
Wir wissen aus den Resultaten der neueren Psychologie,
daß für das Sexualleben des Kindes die Inzestphantasie
typisch ist. Noch der Erwachsene zeigt in den unbewußten
Motiven, die seine Liebeswahl und seine ganze Einstellung
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