VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Rosenthal Wildgans, Seite 4

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1. Panphlets offerints
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Nachum Goldmann, Die Herren Golowljow
endete Formkunst. Sie heißen: „Vae victis“, „Das
Die Herren Golowljow
große Händefalten“, „Ihr Kleingläubigen“, „Aller¬
Ein Beitrag zur Psychologie Rußlands
seelen" „Legende“, „Heilige Nacht“ und „Infan¬
terie“. Und wieder ist es für seine ganze Art charak¬
Von Nachum Goldmann (Frankfurt a. M.)
teristisch, daß ihn nicht die großen, nelgenannten und
on allen Gegnern Deutschlands in diesem
ruhmbeglänzten Helden des Krieges zur Glorifizierung
Krieg ist der russische der wenigst gekannte
reizen und begeistern, sondern die kleinen, stillen,
und verstandene. Rußland ist für uns immer
namenlosen, die wortlos in stummer Pflichttreue
noch jenes große Rätsel, das es seit den
kämpfen, siegen und — sterben. Darin bleibt nament¬
ersten Tagen seiner Beziehungen zu Europa stets ge¬
lich das letzte Gedicht „Infanterie“ in seiner un¬
wesen ist. Wir verfolgen sein äußeres politisch=soziales
pathetisch einfachen und doch ganz feierlichen Wucht
Leben, wir lernen viele seiner Söhne bei uns kennen,
und Größe ein ewiges Dokument.
aber sein Wesen zu verstehen gelingt uns nicht. Seine
Ein Lebenswerk wie das, welches Wildgans be¬
Kultur und seine Seele sind uns wie die Buchstaben
reits hinter sich gebracht hat und noch mehr wie jenes,
seines Alphabets: dieselben Zeichen und doch eine
welches wir künftig von ihm erwarten dürfen, verlangt
andere Bedeutung. Unsere Begriffe, unsere Kultur¬
eine besondere Steilung des Dichters zur Welt und zu
werte, unsere sittlichen Normen, sie sind auch in Ru߬
seiner Gegenwart. Eine Stellung, wie sie auch Rainer
land zu finden; aber sie bedeuten dort etwas ganz
Maria Kilke, dem Wildgans nächst Baudelaire im
anderes, verschiedenes. Ein Teil Europas und doch
Rhythmischen und Versifikatorischen am meisten ver¬
in so vielem nicht mehr Europa; halbasiatisch und doch
dankt, seiner Zeit gegenüber einnimmt. Für diese
abgrundtief von aller asiatischen Kultur geschieden:
Stellung einer stark betonten Einsamkeit, die allein
ein halbes, ein Zwitterding, ein Rätsel.
ein unbefangenes Schauen ins Allgemeine und die
Dies Rätsel zu lösen, gibt es nur einen Weg: die
Möglichkeit einer weitumfassenden, ins Allmenschliche
Kenntnis der russischen Literatur. Wissenschaftliche
gesteigerten Liebe gewährt, hat Wildgans die milde
Beobachtungen und Forschungen, historische Analysen,
Ruhe eines verzichtenden Herzens und den Ton er¬
soziologische Untersuchungen vermögen die Wesensart
greifender Klage gefunden:
eines Volkes klarer zu stellen, sie an Ausdrucksformen
und Beispielen zu erläutern, in das Innerste dieser
„Oh, du kannst einsam sein, daß Gott erbarm'
Und es dich mitten in dem Fliegenschwarm
Wesensart selbst zu führen, vermag nur die nationale
Der Nenschen jäh befällt wie Scham und Grauen
Kunst des Volkes. Einen anderen zu verstehen, dazu
Und manchmal mußt du vor den Spiegel gehn
verhilft uns nur die Intuition, und Intuition ist das
Und voller Angst nach deinem Bilde sehn —
Privilegium der Kunst. Solange nicht die russische:
Um in ein Antlitz, das dich kennt, zu schauen.“
Literatur in Deutschland besser gekannt sein wird
als bislang, wird Rußland uns unverstanden bleiben.
Aber in jener „Stimme im Traume des Künstlers“.
Und doch ist keinem Volke Europas das Verständnis
einem seiner schönsten Gedichte, das wie eine Beichte
Rußlands notwendiger als dem deutschen, dessen
und wie ein Selbstzerfleischen ist, hat er sich zur
stärkster Nachbar es ist. Der Verlauf dieses Krieges
Klarheit seiner Bestimmung durchgerungen, die nicht
hat bereits zur Genüge bewiesen, wie falsch man in
so glänzend von Ruhm und rauschend von Jubel ist,
Deutschland die Eigenart Rußlands zu beurteilen
wie das viele glauben, die nicht vom „feilen Glück
der Menge“ gelockt werden darf und nicht verführt
pflegt. Wer rechnete hier nicht bei Beginn des
von den plumpen Freuden des Alltagsmenschen. Dich¬
Krieges auf den baldigen Ausbruch einer russischen
ter sein, heißt, sich durch Opfer und Schmerzen er¬
Revolution? Statt dessen brachte der Krieg eine nie
gesehene Einigung des Volkes. Solche Mißverständ¬
höh'n, hart sein gegen sich und keinen Gott haben als
nisse und Fehlschlüsse müssen aufhören. Nichts ist
seine innere Berufung.
gefährlicher und bedrückender, als stets einen Nach¬
„Da schrak er auf — und hörte seine Zeit,
barn neben sich zu haben, dessen Wesen einem ein
Die schrie nach ihm wie brünstig im Gefilde
Rätsel ist.
Ein starkes Wild nach seinem Meister schreit.
So sei es dankbar begrüßt, daß der Verlag Georg
Da griff er rauh in seine Einsamkeit
Und schuf aus ihr nach seinem Ebenbilde ...“
Müller vor einiger Zeit bereits an das Unternehmen
herangetreten ist, eine Auswahl der besten Werke
Nicht viele haben das so stark, rein und stummer¬
der russischen Literatur in deutschen Übertragungen
geben vermocht.
herauszugeben. Eine stattliche Zahl klassischer Bücher
ist bereits erschienen, und wir hoffen, daß der Verlag
sein verständnisvoll aufgestelltes Programm ganz wird
durchführen können.
Vor kurzem ist in dieser Ausgabe ein Roman er¬
schienen, der in überzeugendster Weise die Notwendig¬
keit der Beschäftigung mit der russischen Literatur
beweist; ein Roman, dessen Autor bislang in Deutsch¬
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