VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Josef Körner Spätwerk, Seite 3

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1. Panphlets, offorints
wie „Paracelsus“, „Der grüne Kakadu“, „Die Frau mit dem
Dolche", „Der Ruf des Lebens“ „Der junge Medardus“,
„Die Schwestern“ —, sondern auch die Königin seiner Novellen,
die wunderbare „Hirtenflöte“. Und manches andere Werk noch
hätte an eindringlicher Klarheit und ästhetischem Kunstwert
bedeutend gewonnen, wenn der Dichter seine versonnenen Ge¬
stalten im Märchenland belassen und nicht in ein entseeltes
und wunderloses Maschinenzeitalter versetzt hätte.
Freilich, ob jenes Wagnis, ob diese Unterlassung immer
bewußt geschah, stehe dahin; aber keine Frage ist es, daß der
Dichter heute, im Spätherbst seines Lebens und Wirkens,
seinen Beruf erkannt hat und nun mit Willen nicht mehr als
Gestalter der ehernen Gegenwart sich auftut, sondern als Be¬
schwörer und Deuter eines holderen Gewesen!). Nicht zu¬
fällig hat Arthur Schnitzler sämtliche Schriften, die er seit
dem großen Kriege geschaffen, vor dieser Zeitenwende angesetzt,
aus dem richtigen Gefühl oder Erkennen heraus, daß der
1. August 1914 das Todesdatum jener Welt und Welt¬
anschauung bedeutet, in der mit dem Dichter seine sämtlichen
Gestalten atmen und sinnen.
Indem Arthur Schnitzler dergestalt nicht mehr mit dem
Anspruch auftritt, den währenden Tag mit seinen drängenden
Forderungen, das jetzt wirkende Geschlecht in seiner schweren
Arbeit, Sinn und Sollen heutigen Lebens aufzufassen, zu
richten oder gar zu lenken, benimmt er der Kritik den allbereits
wider ihn erhobenen Vorwurf der Unzeitgemäßheit. Er will
nicht länger scheinen, was er nicht sein kann und im Grunde
niemals war. Alle Mißverständnisse lösen sich, und Arthur:
Schnitzlers Werk, von törichten Zeitgenossen einst als gelungene
und amüsante Abschilderung ihrer Wirklichkeit hingenommen,
vom nachgewachsenen Geschlecht nicht minder törichter Weise
als unschöpferische Darstellung einer gehaltlosen Gegebenheit
verachtet, bleibt bestehen als ein schwermütiges Märchen von
der unnennbaren Süße, der unbegreiflichen Not menschlicher
Liebesbeziehungen.
Daß wir auf Umwegen zu einem Dichter zurückkehren
können, der vielen schon endgültig überwunden schien, hat
allerdings noch einen weiteren Grund. Nicht nur wir haben
uns gewandelt, auch er. Lange bevor das Schlagwort von
der Ausdruckskunst und deren Forderungen in einem Menschen¬
hirn sich bildeten, ist Arthur Schnitzler vom sittlichen Relativis¬
1) Vielleicht hat zu dieser Selbsterkenntnis meine Darstellung „Arthur
Schnitzlers Gestalten und Probleme“ (Wien 1921), S. 19f. etwas bei¬
getragen, die den Märchencharakter von Schnitzlers Schriften wohl
zum erstenmal enthüllte; bemerkenswert ist jedenfalls, daß in Schnitzlers
neuestem Drama („Der Gang, zum Weiher“) der nach dem Bilde seines
Schöpfers geformte Sylvester Thorn, ob er gleich in seinen Schriften
„ohne Wahl an Zeitliches sich hingab und verlor“, als ein heimlicher
Märchendichter hingestellt wird.
A
mus, ja Amoralismus seiner 7
zu immer strengerer sittlicher Ber
seine neuesten Schriften zeigen ihn
barer Nähe von den das Ethisch
pressionisten. Der Dichter der „
druckskunst, dachte nicht daran,
Wer spricht von Schuld?
(so läßt er den männlichen Helde
Im Herbste
Im Frühjahr sprießen andre!
Daß einer schuldig ward? Ich
Es sei, daß Schuldigsein bedeu
Gesetzen unterworfen sein. Is
Dann wartet Schuld von Kind
Wie unser Tod in unserm Bu
Solang' wir atmen.
Aber genau wie sein philoso
Simmel von einer relativistisch
bloßen Beschreibung zu einer werten
schritt, so verharrte auch unser Dicht
Beobachtung des unbeteiligten Psych
in das die Menschen unweigerlich
jegliche Verantwortung von ihnen
sittlicher Selbstbestimmung geleugnet
tout pardonner — hatte er als D
und Manneswerk geschrieben, aber
herum meldet sich der Zweifel,
warnend die strengere Weisheit:
perdre. Einst schlossen seine Dichtu
stellung: „So ist das Leben“, besten
Zusatz: „Da kann man nichts mach
Forderungen stellt auch das Spätw
immerhin energisch: „So geht es
gemacht werden“. Kurz, der Dich
stehen, mitten zwischen der impressic
der expressionistischen Satzung!).
Seit dem „Einsamen Weg“ (19
Und, es kann kein Zufall sein, in
zugleich erstmals ein Motiv anges
das Motiv von Schnitzlers Alters
eben das Motiv des Alterns. 2
Kenner Schnitzlers, dieses narzissisch
aus verständlicher Weise ist dieses
Gesichtspunkt des Mannes gesehet
!) Die Arbeit von Selma Koehler, Thef
in the dramatic works of A. S. (
Philology XXII/3), war mir nicht zug
1*
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