VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Josef Körner Spätwerk, Seite 43


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Panphlets Offorints
unbeständig gemacht und dergestalt das Liebesleben aus seiner
Ausnahmestellung hinabgedrückt zu einem Erlebnis neben
andern, nicht minder wichtigen und tiefen. Und indem eine
neue Gesellschaftsmoral zur Herrschaft heransteigt, verliert auch
Schnitzlers vermeintlich zeitlose Liebesdialektik!), ob sie auch dem
heute Werdenden vielfach den Boden hat bereiten helfen, an
Geltung und Belang. Mächtigere Probleme als Liebe und
Tod, die Grundpfeiler von Schnitzlers Gesamtwerk, gibt es
freilich nicht, und die Dichtung kennt in Vergangenheit und
Zukunst keine wichtigeren; aber sie werden heute tiefer ver¬
standen und gewaltiger durchlebt, als Schnitzler und seine
Generation je vermocht, je geahnt hat: eine Liebe, die Hin¬
gabe nicht fordert, sondern ersehnt; eine Liebe, die nicht
dem Weib und dem Geschlecht nachgeht, sondern der Gattung
und Gott; ein Todesgesühl, das die Angst vor der Vernichtung
der Individuation verwandelt in Verlangen nach der Aufhebung
des Individuums ins All, weil alle Vereinzelung Sünde ist,
Abfall von Gott und nur ihr Durchbruch Erlösung.
Damit sind die Grenzen bezeichnet, die Arthur Schnitzlers
dichterisches Werk abscheiden von der Dichtung der Aller¬
jüngsten. Das ist eine Feststellung, keine Herabsetzung; eine
Charakteristik, keine Bewertung. Nichts ware törichter, ver¬
messener und undankbarer als eines Dichters Wert nach
der gerade vorherrschenden (oder zur Herrschaft aufsteigenden)
Welt= und Lebensanschauung zu bestimmen — sei die nun eine
zufällige Mode oder eine geistesgeschichtliche Notwendigkeit.
Der echte Dichter steht über der Zeit, weil im vollendeten Kunst¬
werk der ästhetische Faktor als ein Ewiges beharrt über dem
zeitgebundenen intellettuellen. Mag der Tribut, den Schnitzlers
Schriften dem Geiste zollen, der Gegenwart nicht mehr voll
genügen, sie entschädigen dafür in emotionaler Hinsicht. Solche
Wirkung wird bleiben, und wie sie, durch Sehnsucht nuch dem
holden Märchenland beflügelt, von dem der Dichter so schön
in unser Ohr singt, heut schon stärker ist als gestern, so wird
Arthur Schnitzler, wenn einmal der Geist währender Zeit sich
gewandelt hat und auch er Vergangenheit geworden ist, zu
erneutem Glanze aufsteigen, gleich andern großen Poeten, die
nach flüchtigen frühen Triumphen durchs Fegefeuer der Be¬
sehdung hinüberschritten in das Paradies unbestrittener Auer¬
kennung.
1) Schnitzlers oben S. 68 genannte neueste Schrift wendet sich völlig ab
von jeglicher Liebesdialektik und höberen Probleinen der Seele und des
Geistes zu, die jenseits des Geschlechtsunterschiedes siedeln. Wenn
Schnitzlers Gestaltungskraft mit dem Aufschwung seines Denkers gleiches
Niveau hält, haben wir von dem künftigen Alterswerk des Dichters noch
das Höchste zu erwarten.
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