VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Oskar Walzel, Seite 2


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Pamphlets Offarinte
Universitätsgelehrte, deren Fach weder Geschichte der Kunst noch
der Dichtung ist, rühmten längst, wie gute Auskunft von Bahr zu
holen ist, wenn sich die Frage stellt, wohin der Wind im Augen¬
blick weht. So suchte auch ich immer von Bahr zu lernen.
Schnitzlers Bedeutung in eine wertende Formel zusammen¬
zufassen, liegt mir ganz fern. Mir sind Werturteile überhaupt
nicht so wichtig. Am wenigsten kann ich zugeben, daß jetzt schon
feste Wertungen zeitgenössischer Kunst vorgenommen werden
können. Allein gerade jetzt ersteigen wir einen Standpunkt, von
dem gesehen die Gesamtleistung Schnitzlers sich zu einem Ganzen
rundet und etwas von ihrer Bedeutung verrät, mag diese Be¬
deutung immerhin zeitlich umgrenzt sein.
Unverkennbar ist ja, daß neueste deutsche und besonders
neueste österreichische Dichtung über Schnitzler hinausstrebt, ihn
gelegentlich schon wie etwas Abgetanes hinstellt. Da mir viel
daran liegt, der neuesten Dichtung den Weg zu bahnen, so begriffe
ich ganz gut, wenn mir vorgeworfen würde, daß auch ich ein¬
stimme in den Ruf, Schnitzlers Welt sei von gestern und nicht
von heute. Ich begriffe das besser als den Vorwurf, daß ich
Schnitzler überschätze. Ausdrücklich bezeuge ich, daß ich — bei
aller Vorliebe für die Jüngsten — nicht geneigt bin, Schnitzler
für erledigt zu erklären.
Schnitzlers dichterische Arbeit, die Leistung eines Viertel¬
jahrhunderts, streift nur das Gebiet der Lyrik, entwickelt dagegen
eine große Vielseitigkeit auf dem Felde der Handlungsdichtung.
Von dramatischen Skizzen, die wesentlich nur Gespräche sind, geht
es weiter zu umfänglichen Tragödien, von grotesken Puppen¬
spielen zu Gesellschaftsdramen aus der Gegenwart und zu Ge¬
staltungen von Vorgängen der Vergangenheit. Gebundene Rede
erscheint, allerdings nicht häufig, neben ungebundener, Komik
neben Ernst, Ironie neben einheitlicherer Gestaltung der Stim¬
mung. Der Erzähler Schnitzler bewegt sich zwischen der Kürze
des „Leutnants Gustl“ und dem weiten Umfang des Romans
„Der Weg ins Freie“. Novellistische Knappheit ist ihm ebenso
vertraut wie der weitschichtige Bau eines erzählenden Zeitbilds.
Diese Fülle von Formen dient bei ihm niemals bloßer
Unterhaltung. Unter seinen Zeitgenossen und Mitbewerbern in
Deutschland und in Oesterreich sind sehr viele, die einmal oder
auch öfter etwas Starkes und Neues schufen, im übrigen jedoch
gewiß nicht wertlose, aber leichtere und zugänglichere Gaben
boten. Wer die Dichter der jüngsten dreißig Jahre im Zu¬
sammenhang zu würdigen hat, beobachtet sogar mit einigem
Bangen, wie rasch eine gute Begabung sich daran gewöhnt, ihr
Bestes preiszugeben, um durch geringere Ansprüche den Kreis
ihres Publikums zu erweitern. Schnitzler ist zu geistreich, um
ähnlichen Gefahren ausgesetzt zu sein. Etwas wie ein Problem,
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