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Panphlets Offorints
sei's künstlerischer, sei's menschlicher Art, steht bei ihm stets im
Hintergrund. Noch wenn er sich selbst wiederholt, will er nicht
einen Erfolg ausbeuten, den er errungen hat. Er gilt mit Recht
für einen der Dichter, die das „süße Mädel“ entdeckten und mehr¬
fach verwerteten. Doch über den Typus des süßen Mädels, der
seine stehenden Worte, Gebärden, Wünsche hat, macht er sich selber
lustig. Schon seine Novelle „Sterben“ und sein Schauspiel
„Liebelei“, Dichtungen seiner Frühzeit, leihen dem süßen Mädel
seelische Erlebnisse von eigenem Ton und legen ungewöhnliche
Vorgänge weiblichen Gefühlslebens dar wie seine neueren
reiferen, psochologisch (man könnte auch sagen: psychiatrisch) ver¬
tieften Erzählungen von Frauen.
Den scharfen Beobachter bewähren nicht bloß seine Frauen¬
gestalten. Seine Menschen sind gesehen mit dem Auge des Arztes,
dem der Zusammenhang körperlicher Zustände und seelischer Vor¬
gänge sich leichter eröffnet. Schon konnte ein Vertreter neuer
Psychoanalyse und Schüler Sigmund Freuds in einem umfäng¬
lichen Buch die Menschen Schnitzlers und ihr Erleben wie eine
Bestätigung jüngster wissenschaftlicher Seelenerforschung hin¬
nehmen.
Fraglich mag bleiben, ob überhaupt die Fähigkeit, Menschen
nach den Gesetzen der Psychoanalyse erleben zu lassen, für die
künstlerische Kraft eines Dichters spricht. In dem Zeitalter, das
Schnitzler auftreten und sich weiterentwickeln sah, war eine Be¬
obachtergabe wie seine entschieden ein künstlerischer Vorzug. Die
Eindruckskunst, die heute von der Ausdruckskunst abgelöst werden
soll, wurzelt in dem Bedürfnis des Künstlers, die Umwelt zu be¬
schauen und ihr Abbild im Kunstwerk erstehen zu lassen.
Als Schnitzler anfing, begann der Naturalismus, der ja
gleichfalls auf Beobachtung sich gründet, einer vielfach anders ge¬
arteten Eindruckskunst Raum zu machen. Schnitzler hatte schon
in seinen Erstlingen nur noch wenig vom Naturalismus Zolas
an sich. Er bahnte sogar als einer der ersten den Weg einer Ein¬
druckskunst, die tiefer als Zola in die Seele des Menschen hinab¬
steigt und minder eifrig als Zola zu den Dingen Stellung nimmt.
Zola war ein Kämpfer, Schnitzler betrachtet kühlen Herzens das
Spiel der Seele. Die jähe Glut, die aus Zolas Menschen schlägt,
ist bei Schnitzler nicht zu verspüren. Sie ließe ja kaum zu, den
Augenblick, in dem gegensätzliche Stimmungen in der Seele auf¬
einandertreffen, so rein und so sicher zu spiegeln, wie Schnitzler
das vermag. Reben Schnitzler hat Zola etwas Theatralisches,
hat er verfestigte Gebärden. Das Lockere und Gaukelnde des
Spiels und Widerspiels der Gefühle und Wünsche kann Schnitz¬
ler unvergleichlich festhalten. Die Widersprüche, die im Menschen
stecken, das Hin und Her seiner inneren Vorgänge, das scheinbar
Unbegreifliche seiner Entschlüsse: all das enthüllt sich unter
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Panphlets Offorints
sei's künstlerischer, sei's menschlicher Art, steht bei ihm stets im
Hintergrund. Noch wenn er sich selbst wiederholt, will er nicht
einen Erfolg ausbeuten, den er errungen hat. Er gilt mit Recht
für einen der Dichter, die das „süße Mädel“ entdeckten und mehr¬
fach verwerteten. Doch über den Typus des süßen Mädels, der
seine stehenden Worte, Gebärden, Wünsche hat, macht er sich selber
lustig. Schon seine Novelle „Sterben“ und sein Schauspiel
„Liebelei“, Dichtungen seiner Frühzeit, leihen dem süßen Mädel
seelische Erlebnisse von eigenem Ton und legen ungewöhnliche
Vorgänge weiblichen Gefühlslebens dar wie seine neueren
reiferen, psochologisch (man könnte auch sagen: psychiatrisch) ver¬
tieften Erzählungen von Frauen.
Den scharfen Beobachter bewähren nicht bloß seine Frauen¬
gestalten. Seine Menschen sind gesehen mit dem Auge des Arztes,
dem der Zusammenhang körperlicher Zustände und seelischer Vor¬
gänge sich leichter eröffnet. Schon konnte ein Vertreter neuer
Psychoanalyse und Schüler Sigmund Freuds in einem umfäng¬
lichen Buch die Menschen Schnitzlers und ihr Erleben wie eine
Bestätigung jüngster wissenschaftlicher Seelenerforschung hin¬
nehmen.
Fraglich mag bleiben, ob überhaupt die Fähigkeit, Menschen
nach den Gesetzen der Psychoanalyse erleben zu lassen, für die
künstlerische Kraft eines Dichters spricht. In dem Zeitalter, das
Schnitzler auftreten und sich weiterentwickeln sah, war eine Be¬
obachtergabe wie seine entschieden ein künstlerischer Vorzug. Die
Eindruckskunst, die heute von der Ausdruckskunst abgelöst werden
soll, wurzelt in dem Bedürfnis des Künstlers, die Umwelt zu be¬
schauen und ihr Abbild im Kunstwerk erstehen zu lassen.
Als Schnitzler anfing, begann der Naturalismus, der ja
gleichfalls auf Beobachtung sich gründet, einer vielfach anders ge¬
arteten Eindruckskunst Raum zu machen. Schnitzler hatte schon
in seinen Erstlingen nur noch wenig vom Naturalismus Zolas
an sich. Er bahnte sogar als einer der ersten den Weg einer Ein¬
druckskunst, die tiefer als Zola in die Seele des Menschen hinab¬
steigt und minder eifrig als Zola zu den Dingen Stellung nimmt.
Zola war ein Kämpfer, Schnitzler betrachtet kühlen Herzens das
Spiel der Seele. Die jähe Glut, die aus Zolas Menschen schlägt,
ist bei Schnitzler nicht zu verspüren. Sie ließe ja kaum zu, den
Augenblick, in dem gegensätzliche Stimmungen in der Seele auf¬
einandertreffen, so rein und so sicher zu spiegeln, wie Schnitzler
das vermag. Reben Schnitzler hat Zola etwas Theatralisches,
hat er verfestigte Gebärden. Das Lockere und Gaukelnde des
Spiels und Widerspiels der Gefühle und Wünsche kann Schnitz¬
ler unvergleichlich festhalten. Die Widersprüche, die im Menschen
stecken, das Hin und Her seiner inneren Vorgänge, das scheinbar
Unbegreifliche seiner Entschlüsse: all das enthüllt sich unter
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