VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Sp.: Arthur Schnitzler, Seite 3


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1. PanbhOfforints
Menschen und Dingen, der Kampf der menschlichen Leiden¬
schaft mit den Gesetzen des Weltalls, das mystische Ineinander¬
klingen der Empfindungswelt mit dem dunklen Drang des Unter¬
bewusstseins. all dies Unbegreifliche macht uns nachdenken,
nimmt unseren Geist gefangen, lässt die Saiten des Herzens aber
unberührt. — Aber die Geschöpfe Schnitzlers sind nicht Konstruk¬
tionen, es sind lebenswahre Menschen. Nie verliert er sich in Ab¬
straktionen. Im Gegenteil! Zu lebenswahr, zu klar, zu offen
schauen wir das Spiel der Seelen. Dieses Bogenlampenlicht, mit
der er die Seele des Menschen beleuchtet, erregt wohl unseren
Geist, aber es vermag nicht das Herz zu erwärmen. Wir wünschten
lieber das sanftere Licht des Mondes, das zuerst noch einen Wol¬
kenschleier durchdringen muss, bevor es in uns hineinleuchtet.
Etwas Geheimnisvolles, bläulich Umwobenes muss bleiben, um
uns in Stimmung zu versetzen ... Schnitzler besitzt nicht die Gabe,
dreibändige Romane, architektonisch geformte grosse Dramen zu
schaffen. Das Synthetisierende, Abrundende fehlt. Ihm eignet
die Novelle, der Einakter, worin kein Zweiter ihm gleichkommt.
— Gewiss hat er auch Werke geschrieben, die direkt auf unser
Gemüt einwirken, die uns „packen“, wie etwa „Liebelei“. Aber
solche Schöpfungen sind in der Minderzahl. — Trotz alledem
(oder: deswegen) müssen wir diesen Genius bewundern, wie er
die Abgründe der Seelen aufdeckt, wie alles Menschliche ihm
vertraut ist.
Die Schnitzler'schen Menschen sind keine „nützlichen Glieder
der Gesellschaft“. Es sind keine Mehrer, sondern Zehrer. Keine
Menschen, die mit Alltagssorgen zu kämpfen haben. Schriftsteller,
Maler, Musiker, Offiziere. Keine Moralisten, die sich von den
engen Mauern des Bürgertums einengen lassen. Keine Amorali¬
sten, die ein Wille zur Macht kennzeichnet. Sondern Menschen.
einfach Menschen, wirre, irrende, schwache Menschen (ohne
über deren Schwäche ein Werturteil zu fällen). Zynische, geist¬
reiche, übersinnlich-sinnliche Menschen, die das Leben fürchten
und doch mit aller Kraft sich an es klammern. Keine „Kerle
wie die Stürmer und Dränger. Sondern Menschen ... melancho¬
lisch — leichtlebig — träumerische Wiener.
Typus: Anatol, ein zynisch-geistreicher Lebemann, ein feiger
Abenteurer. Er gäbe die halbe Welt drum, die Wahrheit über
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