VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Sp.: Arthur Schnitzler, Seite 4

—.——
(
box 36/6
1. Panphlets offprints
seine Geliebte zu wissen. Aber wie er sie in der Hypnose fragen
könnte, ob sie ihm treu sei, da findet er den Mut nicht, die Wahr¬
heit anzuhören. Seine an Illusionen gewöhnten Augen würden
erblinden im klaren Lichte der Wahrheit. — Er ist so modern,
mit seiner Geliebten einen Vertrag zu schliessen, sich gegenseitig
frei ziehen zu lassen, wenn’s vorbei sei mit der Liebe. Wie er
aber eines Tages soweit ist, mit der Geliebten zu brechen, da
erträgt er es nicht, zwei Minuten bevor er ihr die Neuigkeit sagt,
das nämliche von ihr zu hören. — „Der Mörder“, — auch eine
Art Anatol — getraut sich nicht, seiner Geliebten zu sagen, dass
es aus sei, weil er nun standesgemäss heiraten müsse. Er will sie
wegschaffen, findet aber den Mut nicht, sie zu töten. Er stellt
das Giftglas auf den Tisch, damit sie ahnungslos sich selbst den
Tod gebe. Er redet sich ein, der Vollzieher ihres Schicksals zu
sein, wenn sie das Glas austrinke.
Schwächliche, willenlose Menschen, die es nicht ertragen kön¬
nen, den andern — besonders den Frauen — dasselbe zu gestat¬
ten, als menschlich hinzunehmen, was sie theoretisch längst ein¬
gesehen und als ihr Recht beansprucht haben.
Komplizierte Subjekte, wir Menschen! So vieles hat zugleich
Raum in uns —! Liebe und Trug... Treue und Treulosigkeit.
Anbetung für die eine und Verlangen nach einer anderen. Die
Ordnung ist nur etwas Künstliches.., Das Natürliche. ist das
Chaos. Die Seele.. ist ein „weites Land“.
Otto: Was wirst du tun, wenn ich fort bin?
Genia: Ich weiss es nicht. Heute weiss ich'’s nicht. Was wuss¬
ten wir vor wenigen Wochen, vor Tagenl.. Man
gleitet. Man gleitet immer weiter, wer
weiss wohin.
Wir gleiten ins Dunkel hinein... Ohne sich’s zu versehen
wird Marie von der Lust nach Leben übermannt, wie ihr Geliebter
im „Sterben liegt. — Die Liebe flacht zur Gewohnheit ab oder
zur Erinnerung... und mit der Erinnerung beginnt schon das
Vergessen. — So sicht es in den unberechenbaren Seelen der
Schnitzler'schen Menschen aus: Ein köstlich scheinendes Spiel von
Zurückhaltung und Frechheit, von feiger Eifersucht und erlogenem
Gleichmut — von rasender Leidenschaft und leerer Lust.
Sp.
102
S