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2. guttings
Arthur Schnitzler.
(Frst seit kurzer Zeit bin ich mir darüber klar geworden, was es wohl
E sei, das den Dichtungen des bedeutendsten österreichischen Dra¬
matikers der Gegenwart einen so tiefen gemeinsamen individuellen
Reiz verleiht. Es kann nichts anderes sein, als die Einheitlichkeit
ihrer Lebensstimmung, ihre stereotype Haltung gegen das Leben,
die Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit der Atmosphäre, worin die
Seelen ihrer Menschen athmen. Alle diese Dramen, Erzählungen
und Dialoge tragen das unverwischbare Gepräge der Persönlich¬
keit ihres Dichters in einem so hohen Grade, wie wenig andere
Werke der dichtenden Zeitgenossen. In absehbarer Zeit wird man
ihm wahrscheinlich daraus den Vorwurf der Einseitigkeit formu¬
lieren, nach einer unter uns Deutschen ziemlich beliebten Sitte,
gerade das von einem fertigen Autor mit Vehemenz zu fordern,
was er der Grundstimmung seines Wesens nach nicht gewähren
kann, ohne an seiner innersten Natur einen tiefen Verrath zu
verüben.
Uns über die Elemente der gemeinsamen Grundstimmung
dieser Dichtungen flüchtig zu orientieren, genügt schon eine rasche
Musterung ihrer Sujets. Das „Märchen“ ist das Drama vom
Mann, der über die Vergangenheit seiner Geliebten nicht hinweg¬
kommen kann. Die „Denksteine“ im „Anatol“ variieren dasselbe
Thema, desgleichen die Geschichte vom Elixir“ deren Held nach
einem Mädchen ohne Vergangenheiten, ja ohne Zukunft sucht und
schließlich mit großer Consequenz dahin gelangt, die Geliebte zu
ermorden, um sich ihrer völlig zu versichern. „Anatol“ dieses melan¬
cholische Buch der Enttäuschungen, ist ganz angefüllt mit solchen
trüben Erfahrungen des Verstandesculturmenschen. Anatol selbst
nennt sich einmal einen „Hypochonder der Liebe“ und bekennt:
„Mir ist manchmal, als werde die Sage vom bösen Blick an mir
wahr... Nur ist der meine nach innen gewandt und meine besten
Empfindungen siechen vor ihm hin... Die Figur der Novelle
„Sterben“ welkt im kalten Schatten der eigenen tödlichen Zukunft.
Die eigentliche Tragödie der „Liebelei“ spielt sich in ihrem letzten
Act ab: die Christin' stirbt nicht am Tod ihres Fritz, sondern am
plötzlichen Wissen um die Vergangenheit. Am unheimlichsten wirkt
die Mittheilung dieser Stimmung im „Freiwild“; da geht ein
Mensch drei Acte lang herum und redet und redet, während rings
in allen Winkeln seine eigene Vergangenheit, eine lauernde, gefräßige
Spinne, ihre unentrinnbaren tödtlichen Netze spinnt und langsam
um ihn zusammenzieht... Auch in den schönen neuen Erzählungen,
die Schnitzler jüngst unter dem Titel der schönsten von ihnen, „Die
Frau des Weisen“ in einem Band vereinigt herausgegeben hat und
die mir den Anlass zu dieser kleinen Betrachtung geben, hat die
Erinnerung an eine todte Vergangenheit eine unheimliche und un¬
natürliche Macht über den lebenden Menschen. In der „Frau des
Weisen“ entfremdet sie dem Liebenden die Geliebte, in einer anderen
Geschichte, „Die Todten schweigen“ erweist sie sich noch stärker als
der Selbsterhaltungstrieb und in den „Todten Blumen“ hält der
gespenstische Gruß einer Todten ihren Geliebten vom Leben fern...
„Todte Dinge spielen das Leben“. In diesen Satz, der in der
letzten erwähnten Novelle steht, hat der Dichter die ganze große
elegische Grundstimmung seines Werkes zusammengedrängt.
Todte Dinge spielen das Leben... Wie von ungeheueren Wolken
fällt ein tiefer Schatten vergangener oder künftiger
Schicksale über die Existenzen dieser Menschen... Sie
leben alle in einer schwülen Witterung und beklemmenden Luft; auf
der Schwelle des Momentes sich niederzulassen und dem gegen¬
wärtigen Leben gefasst und heiter ins Antlitz zu schauen, ist ihnen
versagt Es ist eine specifisch jüdisch=christliche Stimmung, die sie
erfüllt, und ihr Gegenspiel sind die Menschen aller guten Heiden
von Homer bis zu Goethe, Böcklin, Keller, Stefan George. Neben
jene echt heidnische Apostrophe Fanstens an den Augenblick: „Verweile
doch, du bist so schön!“ halte man die Worte, in denen Max eine
gute Charakeristik seines Freundes Anatol, dieses typischen Menschen
Schnitzlers, niedergelegt hat:
„Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze schwere Last von
unverarbeiteter Vergangenheit mit sich . . . Was ist nun die natür¬
liche Folge? Dass auch um die gesündesten und blühendsten Stunden
deines Jetzt ein Duft dieses Moders fließt und die Atmosphäre
deiner Gegenwart unrettbar vergiftet ist ...
Und beherrscht nicht diese Stimmung, wenn wir sie weiter
und allgemeiner fassen, alle strebenden Menschen dieser Zeit? Auf
uns allen ruht der Fluch der allzu vielen Erinnerungen, die Erb¬
schaft vieler Culturen.
Seite 41.
15. October 1898.
„Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abthun von meinen Lidern ...“
Gerne möchten wir uns befreien und auf der Suche nach
jeuen Morgenröthen lieber die ungeheuere Fahrt ins Ungewisse
sagen, statt für immer an den Ketten der Vergangenheit zu liegen
aber sind wir wirklich schon das Geschlecht der Eroberer? Jede
Wer unzähligen nothwendigen Trennungen fügt uns neue Wunden
zu, Zweifel und Ermüdung fallen uns an, wenn rings um uns
alles krankt, die verläfslichsten Instinete zu versagen beginnen und
die Anarchie der Gefühle ausgebrochen ist; schwindelnd greifen wir
Und bange
um uns, nach neuen Stäben für die neuen Wege...
Stunden kommen, wo wir matt und muthlos heimkehren und im
Zwielicht die theueren Erbstücke aus den alten Laden holen, um sie
mit Sehnsucht und tiefer Rührung zu betrachten ...
Es ist die Melancholie der Uebergangsmenschen dieser Zeit,
und eine ihrer Formen hat Schnitzler in seinen Büchern mit großer
lyrischer Macht ausgeprägt.
Die neue Sammlung enthält außer den bereits erwähnten
noch zwei Novellen, „Ein Abschied“ und Der Ehrentag“. Auch
ihr Thema, wie der übrigen, ist: Liebe und Tod. Brüderlich vereint,
wie auf spätrömischen Sarkophagen, halten Thanatos und Eros ihre
Fackeln über dieses Buch, deren ungewisser Schein schattenhaft über
seine Seiten flattert.
Im „Abschied“ einer nervösen Studie, niedergeschrieben von
einem leidenschaftlichen Virtuosen der psychologischen Analyse in der
Weise Bourgets oder d'Annunzios, bewundere ich sehr den innen¬
sichtigen Blick und die ruhige Hand eines Arztes, die das zarte
Geäder jener sehr flüchtigen und dumpfen Gedanken= und Gefühls¬
reihen bloßlegt, die sich kaum über die Schwelle des Bewusstseins
erheben. Ich eitiere eine dieser ungemeinen Einsichten, um zu zeigen,
wie tief die Pflüge dieses Dichters graben. (Die Situation ist die:
Ein junger Mensch ist in fürchterlicher Ungewissheit über den Zustand
seiner kranken Geliebten, zu der ihm der Zutritt verwehrt ist.)
dass sie schwer krank war, konnte er glauben, aber gefährlich,
nein ... So jung, so schön und so geliebt . . . Und plötzlich schoss
ihm wieder das Wort: „Kopftyphus“ durch den Sinn ... Er wusste
nicht recht, was das eigentlich war. Er erinnerte sich, es zuweilen
im Verzeichnis der Verstorbenen als Todesursache gelesen zu haben.
Er stellte sich jetzt ihren Namen gedruckt vor, dazu ihr Alter,
und dazu: „gestorben am 10. August an Kopftyphus“... Das war
unmöglich, vollkommen unmöglich . .. jetzt, da er sich's vorge¬
stellt hatte, war es schon ganz unmöglich;. . . Das wäre
zu seltsam, dass er das in ein paar Tagen wirklich gedruckt lesen
sollte. .. Er glaubte geradezu das Schicksal überlistet
zu haben.“ (Nun folgt ein kleines Intermezzo in der Handlung
der Geschichte, dann heißt es weiter:) „. . . Und plötzlich musste er
sich vorstellen, wie sie das erstemal nach ihrer Genesung zu ihm
kommen würde Es war ein so deutliches Bild, dass er ganz
erstannt war. Er wusste sogar, dass an diesem Tage ein feiner,
grauer Regen herunterrieseln würde. Und sie hat einen Mantel
um, der ihr schon im Vorzimmer von der Schulter fällt, und
Kürzt in seine Arme und kann nur weinen und weinen. Da
flüstert sie endlich ... Plötzlich schrak
##st du mich wieder...
Albert zusammen... Er wusste, dass das nie, niemals
sein würde... Jetzt hatte das Schicksal ihn über¬
listet!... Nie wieder würde sie zu ihm kommen — vor fünf
Tagen war sie das letztemal bei ihm gewesen und er hatte sie auf
immer gehen lassen, und er hatte es nicht gewusst ...
Ich glaube, an der Aussprache solcher Geheimnisse darf man
die Größe eines Dichters messen ...
Ehrentag“ ist eine etwas grelle Erfindung im
Geschmacke Maupassants, als Geschichte gut eingetheilt und wirksam
erzählt, nur den Schlufs möchte man stärker herausgetrieben sehen;
echt österreichisch in der Stimmung, die den Helden, einen Enkel
des „armen Spielmanns“ umfließt, ist sie zugleich sehr wienerisch
in ihrer Voraussetzung eines übertriebenen neugierigen Interesses
an allen theatralischen Dingen; eine Voraussetzung, ohne die die
Geschichte unmöglich würde.
Alle diese Novellen sind — bei tadellosen literarischen Ma¬
— doch auch im vulgären Sinne spannend, wir folgen
nieren
den sich entrollenden Handlungen auch mit einem starken stoff¬
lichen Interesse: lyrische Wirkungen kommen immer erst in zweiter
Linie in Betracht. Daran wird, wie mir scheinen will, der Dra¬
matiker Schnitzler sichtbar, desgleichen an der Reinheit, in der
das jeweilige Motiv herausgestellt ist, und an der Unerbittlichkeit,
die alles Beiwerk, womit es epische Fülle zu umgeben pflegt, weg¬
geschält hat, um eine mathematische Genanigkeit und Schlankheit
der Linie hervorzubringen. Zweimal ist die Form des Tagebuchs
angewandt, die unleugbar für die „unbeschäftigten“ Reflexions¬
menschen Schnitzlers, als welche die Muße und die Neigung
haben, erlebend neben ihrem Leben herzugehen, eine starke innere
Wahrscheinlichkeit besitzt. Ueber die ausgezeichnete formale Leistung
dieses Dichters, die auch hier wieder aufs schönste zutage tritt, hat
schon Alfred Kerr vor zwei Jahren das letzte Wort gesprochen, als
2. guttings
Arthur Schnitzler.
(Frst seit kurzer Zeit bin ich mir darüber klar geworden, was es wohl
E sei, das den Dichtungen des bedeutendsten österreichischen Dra¬
matikers der Gegenwart einen so tiefen gemeinsamen individuellen
Reiz verleiht. Es kann nichts anderes sein, als die Einheitlichkeit
ihrer Lebensstimmung, ihre stereotype Haltung gegen das Leben,
die Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit der Atmosphäre, worin die
Seelen ihrer Menschen athmen. Alle diese Dramen, Erzählungen
und Dialoge tragen das unverwischbare Gepräge der Persönlich¬
keit ihres Dichters in einem so hohen Grade, wie wenig andere
Werke der dichtenden Zeitgenossen. In absehbarer Zeit wird man
ihm wahrscheinlich daraus den Vorwurf der Einseitigkeit formu¬
lieren, nach einer unter uns Deutschen ziemlich beliebten Sitte,
gerade das von einem fertigen Autor mit Vehemenz zu fordern,
was er der Grundstimmung seines Wesens nach nicht gewähren
kann, ohne an seiner innersten Natur einen tiefen Verrath zu
verüben.
Uns über die Elemente der gemeinsamen Grundstimmung
dieser Dichtungen flüchtig zu orientieren, genügt schon eine rasche
Musterung ihrer Sujets. Das „Märchen“ ist das Drama vom
Mann, der über die Vergangenheit seiner Geliebten nicht hinweg¬
kommen kann. Die „Denksteine“ im „Anatol“ variieren dasselbe
Thema, desgleichen die Geschichte vom Elixir“ deren Held nach
einem Mädchen ohne Vergangenheiten, ja ohne Zukunft sucht und
schließlich mit großer Consequenz dahin gelangt, die Geliebte zu
ermorden, um sich ihrer völlig zu versichern. „Anatol“ dieses melan¬
cholische Buch der Enttäuschungen, ist ganz angefüllt mit solchen
trüben Erfahrungen des Verstandesculturmenschen. Anatol selbst
nennt sich einmal einen „Hypochonder der Liebe“ und bekennt:
„Mir ist manchmal, als werde die Sage vom bösen Blick an mir
wahr... Nur ist der meine nach innen gewandt und meine besten
Empfindungen siechen vor ihm hin... Die Figur der Novelle
„Sterben“ welkt im kalten Schatten der eigenen tödlichen Zukunft.
Die eigentliche Tragödie der „Liebelei“ spielt sich in ihrem letzten
Act ab: die Christin' stirbt nicht am Tod ihres Fritz, sondern am
plötzlichen Wissen um die Vergangenheit. Am unheimlichsten wirkt
die Mittheilung dieser Stimmung im „Freiwild“; da geht ein
Mensch drei Acte lang herum und redet und redet, während rings
in allen Winkeln seine eigene Vergangenheit, eine lauernde, gefräßige
Spinne, ihre unentrinnbaren tödtlichen Netze spinnt und langsam
um ihn zusammenzieht... Auch in den schönen neuen Erzählungen,
die Schnitzler jüngst unter dem Titel der schönsten von ihnen, „Die
Frau des Weisen“ in einem Band vereinigt herausgegeben hat und
die mir den Anlass zu dieser kleinen Betrachtung geben, hat die
Erinnerung an eine todte Vergangenheit eine unheimliche und un¬
natürliche Macht über den lebenden Menschen. In der „Frau des
Weisen“ entfremdet sie dem Liebenden die Geliebte, in einer anderen
Geschichte, „Die Todten schweigen“ erweist sie sich noch stärker als
der Selbsterhaltungstrieb und in den „Todten Blumen“ hält der
gespenstische Gruß einer Todten ihren Geliebten vom Leben fern...
„Todte Dinge spielen das Leben“. In diesen Satz, der in der
letzten erwähnten Novelle steht, hat der Dichter die ganze große
elegische Grundstimmung seines Werkes zusammengedrängt.
Todte Dinge spielen das Leben... Wie von ungeheueren Wolken
fällt ein tiefer Schatten vergangener oder künftiger
Schicksale über die Existenzen dieser Menschen... Sie
leben alle in einer schwülen Witterung und beklemmenden Luft; auf
der Schwelle des Momentes sich niederzulassen und dem gegen¬
wärtigen Leben gefasst und heiter ins Antlitz zu schauen, ist ihnen
versagt Es ist eine specifisch jüdisch=christliche Stimmung, die sie
erfüllt, und ihr Gegenspiel sind die Menschen aller guten Heiden
von Homer bis zu Goethe, Böcklin, Keller, Stefan George. Neben
jene echt heidnische Apostrophe Fanstens an den Augenblick: „Verweile
doch, du bist so schön!“ halte man die Worte, in denen Max eine
gute Charakeristik seines Freundes Anatol, dieses typischen Menschen
Schnitzlers, niedergelegt hat:
„Deine Gegenwart schleppt immer eine ganze schwere Last von
unverarbeiteter Vergangenheit mit sich . . . Was ist nun die natür¬
liche Folge? Dass auch um die gesündesten und blühendsten Stunden
deines Jetzt ein Duft dieses Moders fließt und die Atmosphäre
deiner Gegenwart unrettbar vergiftet ist ...
Und beherrscht nicht diese Stimmung, wenn wir sie weiter
und allgemeiner fassen, alle strebenden Menschen dieser Zeit? Auf
uns allen ruht der Fluch der allzu vielen Erinnerungen, die Erb¬
schaft vieler Culturen.
Seite 41.
15. October 1898.
„Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abthun von meinen Lidern ...“
Gerne möchten wir uns befreien und auf der Suche nach
jeuen Morgenröthen lieber die ungeheuere Fahrt ins Ungewisse
sagen, statt für immer an den Ketten der Vergangenheit zu liegen
aber sind wir wirklich schon das Geschlecht der Eroberer? Jede
Wer unzähligen nothwendigen Trennungen fügt uns neue Wunden
zu, Zweifel und Ermüdung fallen uns an, wenn rings um uns
alles krankt, die verläfslichsten Instinete zu versagen beginnen und
die Anarchie der Gefühle ausgebrochen ist; schwindelnd greifen wir
Und bange
um uns, nach neuen Stäben für die neuen Wege...
Stunden kommen, wo wir matt und muthlos heimkehren und im
Zwielicht die theueren Erbstücke aus den alten Laden holen, um sie
mit Sehnsucht und tiefer Rührung zu betrachten ...
Es ist die Melancholie der Uebergangsmenschen dieser Zeit,
und eine ihrer Formen hat Schnitzler in seinen Büchern mit großer
lyrischer Macht ausgeprägt.
Die neue Sammlung enthält außer den bereits erwähnten
noch zwei Novellen, „Ein Abschied“ und Der Ehrentag“. Auch
ihr Thema, wie der übrigen, ist: Liebe und Tod. Brüderlich vereint,
wie auf spätrömischen Sarkophagen, halten Thanatos und Eros ihre
Fackeln über dieses Buch, deren ungewisser Schein schattenhaft über
seine Seiten flattert.
Im „Abschied“ einer nervösen Studie, niedergeschrieben von
einem leidenschaftlichen Virtuosen der psychologischen Analyse in der
Weise Bourgets oder d'Annunzios, bewundere ich sehr den innen¬
sichtigen Blick und die ruhige Hand eines Arztes, die das zarte
Geäder jener sehr flüchtigen und dumpfen Gedanken= und Gefühls¬
reihen bloßlegt, die sich kaum über die Schwelle des Bewusstseins
erheben. Ich eitiere eine dieser ungemeinen Einsichten, um zu zeigen,
wie tief die Pflüge dieses Dichters graben. (Die Situation ist die:
Ein junger Mensch ist in fürchterlicher Ungewissheit über den Zustand
seiner kranken Geliebten, zu der ihm der Zutritt verwehrt ist.)
dass sie schwer krank war, konnte er glauben, aber gefährlich,
nein ... So jung, so schön und so geliebt . . . Und plötzlich schoss
ihm wieder das Wort: „Kopftyphus“ durch den Sinn ... Er wusste
nicht recht, was das eigentlich war. Er erinnerte sich, es zuweilen
im Verzeichnis der Verstorbenen als Todesursache gelesen zu haben.
Er stellte sich jetzt ihren Namen gedruckt vor, dazu ihr Alter,
und dazu: „gestorben am 10. August an Kopftyphus“... Das war
unmöglich, vollkommen unmöglich . .. jetzt, da er sich's vorge¬
stellt hatte, war es schon ganz unmöglich;. . . Das wäre
zu seltsam, dass er das in ein paar Tagen wirklich gedruckt lesen
sollte. .. Er glaubte geradezu das Schicksal überlistet
zu haben.“ (Nun folgt ein kleines Intermezzo in der Handlung
der Geschichte, dann heißt es weiter:) „. . . Und plötzlich musste er
sich vorstellen, wie sie das erstemal nach ihrer Genesung zu ihm
kommen würde Es war ein so deutliches Bild, dass er ganz
erstannt war. Er wusste sogar, dass an diesem Tage ein feiner,
grauer Regen herunterrieseln würde. Und sie hat einen Mantel
um, der ihr schon im Vorzimmer von der Schulter fällt, und
Kürzt in seine Arme und kann nur weinen und weinen. Da
flüstert sie endlich ... Plötzlich schrak
##st du mich wieder...
Albert zusammen... Er wusste, dass das nie, niemals
sein würde... Jetzt hatte das Schicksal ihn über¬
listet!... Nie wieder würde sie zu ihm kommen — vor fünf
Tagen war sie das letztemal bei ihm gewesen und er hatte sie auf
immer gehen lassen, und er hatte es nicht gewusst ...
Ich glaube, an der Aussprache solcher Geheimnisse darf man
die Größe eines Dichters messen ...
Ehrentag“ ist eine etwas grelle Erfindung im
Geschmacke Maupassants, als Geschichte gut eingetheilt und wirksam
erzählt, nur den Schlufs möchte man stärker herausgetrieben sehen;
echt österreichisch in der Stimmung, die den Helden, einen Enkel
des „armen Spielmanns“ umfließt, ist sie zugleich sehr wienerisch
in ihrer Voraussetzung eines übertriebenen neugierigen Interesses
an allen theatralischen Dingen; eine Voraussetzung, ohne die die
Geschichte unmöglich würde.
Alle diese Novellen sind — bei tadellosen literarischen Ma¬
— doch auch im vulgären Sinne spannend, wir folgen
nieren
den sich entrollenden Handlungen auch mit einem starken stoff¬
lichen Interesse: lyrische Wirkungen kommen immer erst in zweiter
Linie in Betracht. Daran wird, wie mir scheinen will, der Dra¬
matiker Schnitzler sichtbar, desgleichen an der Reinheit, in der
das jeweilige Motiv herausgestellt ist, und an der Unerbittlichkeit,
die alles Beiwerk, womit es epische Fülle zu umgeben pflegt, weg¬
geschält hat, um eine mathematische Genanigkeit und Schlankheit
der Linie hervorzubringen. Zweimal ist die Form des Tagebuchs
angewandt, die unleugbar für die „unbeschäftigten“ Reflexions¬
menschen Schnitzlers, als welche die Muße und die Neigung
haben, erlebend neben ihrem Leben herzugehen, eine starke innere
Wahrscheinlichkeit besitzt. Ueber die ausgezeichnete formale Leistung
dieses Dichters, die auch hier wieder aufs schönste zutage tritt, hat
schon Alfred Kerr vor zwei Jahren das letzte Wort gesprochen, als