2. Cuttings
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ALFRED KERR.
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„Klugerfahrener“
Es war hohe Zeit, dass ich fortkam; wäre ich damals ein
gewesen, so hätte ich mit Mephistopheles sprechen können:
Und hat mit diesem kindisch-tollen Ding
Der Klugerfahr’ne sich beschäftigt,
So ist fürwahr die Thorheit nicht gering
Die seiner sich am Schluss bemächtigt.
In einem schlesischen Gebirgsdorfe, wo mein Schwager Arzt ist, sass
ich die ersten Wochen vor der Abreise nach Italien. Es war der schlimme
Zustand eingetreten, wo die Natur, Luft, Berge nicht die geringste Wirkung
mehr üben; wo man gepresst, totengleichgiltig, voll verhaltener Ausbrüche
ist, von keinem Weib etwas wissen will und nur das unstillbare wütende Ver¬
langen fühlt nach dem einzigen Körper des verfluchten geliebten Frauenzimmers,
das man verlassen hat, für die man mit Bräutigam und Mutter auf seiner
Bude sich herumgeschlagen hat, und die man aus dem Wasser holte, da sie
aus Wut und Jugend und Liebesbestialität und Komödie hineinhopste.
In dieser Stimmung, abwesend, willensgelähmt und voll drohender
Raserei las ich eines Morgens „Die Frage nach dem Schicksal“. Es war das
erste Stück eines „Anatol“ benannten schmächtigen Bandes. Julius Petri, den
ich dann bei der Rückkehr schon auf dem Sterbebett traf, hatte mir ihn kurz
vor der Abreise aus den Rezensionsexemplaren der Deutschen Rundschau ge¬
schenkt; ohne den Inhalt zu kennen. Als ich jetzt die ersten zwanzig Seiten
las, sank eine leise, entzückende Stimmung herab, wie laue Regentropfen im
Juni, es löste sich etwas in mir, die Seiten kos’ten mich, und ich dachte nun
wieder, nach all den wilden Auftritten, an jene unvergesslich süssen Nächte
zurück, auch an die abendliche Pfaueninsel und an die späten Fahrten auf
der wipfelstillen, dunkelgrünen Havel mit dem schwachen, roten Schein, -
und an ihre besten Liebestage und ihre schlichteste Hingebung.
Dann, beim ersten Frühstück, als meine Schwester den Thee eingoss,
sprach ich zu ihr in seltsamen Empfindungen: „Annchen, hier hab’ ich ein
das ist der wunderbarste Kerl, den ich kenne. Und heisst
Buch —
„Schnitzler“!“
II.
Wie oft habe ich den Anatol seitdem vorgenommen, wie oft bin ich
in diese witzig süsse Flut getaucht und habe, hingerissen in lachendem Ent¬
zücken geschwelgt. Ja, ich kann sagen: ich frass dieses Buch. Und alles,
was dem elenderen Teile unsrer selbst, dem Kritiker, widersprach, das frass
ich schliesslich mit. Nicht bloss der Zauber eigener Erinnerungen, die nicht
allzuweit zurücklagen, wirkte; es wirkte in diesen Szenen die Gegenwart eines
träumerischen seltenen Kenners, der zarte Wunder schuf; die Nähe eines
sehr geistvollen Empfinders. Die sieben Szenen, aus denen der Anatol be¬
steht, sind sieben Szenen. Mögen sie mit einander durch, dieselbe Sphäre
verbunden sein:; das Buch als etwas Organisches zu fassen wäre Therheit
und Pedanterie. Sie schwebten heran, wie ein leichter Zufall sie entstehen
liess, und allenfalls mag nachträglich eine Abrundung, eine Vervollständigung
den Schein des planvoll Angelegten geweckt haben. In der Mitte ein leicht¬
sinniger Melancholiker; hinter ihm, neben ihm, vor ihm Weiberchen. Nur
diesc eine Seite des Lebens wird in's Auge gefasst; und an dieser einen
Seite nur einige Seiten. Aber wie es geschieht: das ist unvergleichlich und
unvergesslich. Ich weiss, dass viele Köpfe, — und nicht die schlechtesten
die wir haben, — dieser Kunst unschlüssig, ja achselzuckend sich gegenüber¬
gestellt haben; ich fühlte, wie sie auch dem reifsten Werk dieses jungen
Meisters nur kargen Beifall widerwillig und halb zweifelnd schenkten. Es
liegt hierin eine Verachtung so durchsichtiger, leichtgewebter, flüchtig ent¬
W
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ALFRED KERR.
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„Klugerfahrener“
Es war hohe Zeit, dass ich fortkam; wäre ich damals ein
gewesen, so hätte ich mit Mephistopheles sprechen können:
Und hat mit diesem kindisch-tollen Ding
Der Klugerfahr’ne sich beschäftigt,
So ist fürwahr die Thorheit nicht gering
Die seiner sich am Schluss bemächtigt.
In einem schlesischen Gebirgsdorfe, wo mein Schwager Arzt ist, sass
ich die ersten Wochen vor der Abreise nach Italien. Es war der schlimme
Zustand eingetreten, wo die Natur, Luft, Berge nicht die geringste Wirkung
mehr üben; wo man gepresst, totengleichgiltig, voll verhaltener Ausbrüche
ist, von keinem Weib etwas wissen will und nur das unstillbare wütende Ver¬
langen fühlt nach dem einzigen Körper des verfluchten geliebten Frauenzimmers,
das man verlassen hat, für die man mit Bräutigam und Mutter auf seiner
Bude sich herumgeschlagen hat, und die man aus dem Wasser holte, da sie
aus Wut und Jugend und Liebesbestialität und Komödie hineinhopste.
In dieser Stimmung, abwesend, willensgelähmt und voll drohender
Raserei las ich eines Morgens „Die Frage nach dem Schicksal“. Es war das
erste Stück eines „Anatol“ benannten schmächtigen Bandes. Julius Petri, den
ich dann bei der Rückkehr schon auf dem Sterbebett traf, hatte mir ihn kurz
vor der Abreise aus den Rezensionsexemplaren der Deutschen Rundschau ge¬
schenkt; ohne den Inhalt zu kennen. Als ich jetzt die ersten zwanzig Seiten
las, sank eine leise, entzückende Stimmung herab, wie laue Regentropfen im
Juni, es löste sich etwas in mir, die Seiten kos’ten mich, und ich dachte nun
wieder, nach all den wilden Auftritten, an jene unvergesslich süssen Nächte
zurück, auch an die abendliche Pfaueninsel und an die späten Fahrten auf
der wipfelstillen, dunkelgrünen Havel mit dem schwachen, roten Schein, -
und an ihre besten Liebestage und ihre schlichteste Hingebung.
Dann, beim ersten Frühstück, als meine Schwester den Thee eingoss,
sprach ich zu ihr in seltsamen Empfindungen: „Annchen, hier hab’ ich ein
das ist der wunderbarste Kerl, den ich kenne. Und heisst
Buch —
„Schnitzler“!“
II.
Wie oft habe ich den Anatol seitdem vorgenommen, wie oft bin ich
in diese witzig süsse Flut getaucht und habe, hingerissen in lachendem Ent¬
zücken geschwelgt. Ja, ich kann sagen: ich frass dieses Buch. Und alles,
was dem elenderen Teile unsrer selbst, dem Kritiker, widersprach, das frass
ich schliesslich mit. Nicht bloss der Zauber eigener Erinnerungen, die nicht
allzuweit zurücklagen, wirkte; es wirkte in diesen Szenen die Gegenwart eines
träumerischen seltenen Kenners, der zarte Wunder schuf; die Nähe eines
sehr geistvollen Empfinders. Die sieben Szenen, aus denen der Anatol be¬
steht, sind sieben Szenen. Mögen sie mit einander durch, dieselbe Sphäre
verbunden sein:; das Buch als etwas Organisches zu fassen wäre Therheit
und Pedanterie. Sie schwebten heran, wie ein leichter Zufall sie entstehen
liess, und allenfalls mag nachträglich eine Abrundung, eine Vervollständigung
den Schein des planvoll Angelegten geweckt haben. In der Mitte ein leicht¬
sinniger Melancholiker; hinter ihm, neben ihm, vor ihm Weiberchen. Nur
diesc eine Seite des Lebens wird in's Auge gefasst; und an dieser einen
Seite nur einige Seiten. Aber wie es geschieht: das ist unvergleichlich und
unvergesslich. Ich weiss, dass viele Köpfe, — und nicht die schlechtesten
die wir haben, — dieser Kunst unschlüssig, ja achselzuckend sich gegenüber¬
gestellt haben; ich fühlte, wie sie auch dem reifsten Werk dieses jungen
Meisters nur kargen Beifall widerwillig und halb zweifelnd schenkten. Es
liegt hierin eine Verachtung so durchsichtiger, leichtgewebter, flüchtig ent¬
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