VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Friedrich Thieberger, Seite 1

Panphletsofforints
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Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 165
Zeit despotischer Machthaberei und kleinlicher Kabinettskriege, als einen
weisen, gerechten, gütigen, einsichtsvollen Friedensfürsten, dem es mehr auf
Hebung der allgemeinen Kultur und Wohlfahrt, als auf äußeren Glanz und
auf Eroberungen ankommt; zeichnet er den patriotischen Adel, den patrio¬
tischen Beamten, den patriotischen Soldaten. Hier findet die Frage, die Lessing
seinem Tellheim in den Mund legt: „Wie kam der Mohr in venetianische
Dienste? Hatte der Mohr denn kein Vaterland?“ die bündige und zur Zeit
gewerbsmäßigen Söldnertums kühne Beantwortung: nur der darf Soldat
werden, der von der Gerechtigkeit der Sache überzeugt ist, für die er kämpft.
Und in einer Vorahnung der künftigen Gestaltung schreibt er den Satz hin:
„Unter einem gerechten König ist jeder Bürger Soldat, und jeder Soldat
Bürger.“ Solche Aussprüche weisen uns wieder auf den Kern der Persönlich¬
keit hin, der sich uns unter den rationalistischen Rechenkünsten zu entziehen
drohte; sie zeigen uns, daß dieser Mann etwas von dem Geiste hatte, der die
österreichische Geschichte auf ihrem dornenvollen Aufstiege geleitet hat.
Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes.
Von Friedrich Thieberger (Prag).
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Eines der wertvollsten Erlebnisse, welche durch die gewaltigen Erschütterungen
des gegenwärtigen Krieges in uns Form gewinnen, ist das historische Gefühl
der unmittelbar verflossenen Epoche gegenüber. Jedes Zeitalter bannt seine
Menschen in die ihm eigentümlichen Schwingungen und wir müssen schon
selbst von einem neuen Weltrhythmus erfaßt sein, soll unser Gehör den früheren
rückforschend vernehmen und deuten. Was aber sonst nur eine historische
Distanz einzelnen zu geben vermag, erfahren wir nun alle durch die um¬
gestaltende Macht der plötzlichen Ereignisse.
Um das Jahr 1895 beginnt ein neuer Literaturabschnitt in deutschen
Landen: damals stand man am Ende einer Entwicklung. Der Naturalismus
hatte mit den Regeln des sanktionierten, poetischen Gefühls sturmwindartig
aufgeräumt, es war etwas wie Zugluft in die gesperrte Atmosphäre der
Kunstprunkhallen gekommen. Die Abfolge der Erscheinungen war die für alle
größeren und großen Epochen der deutschen Literatur charakteristisch: die
theoretische Kritik setzt ein und will einen Weg durch die Neuordnung der
Dinge weisen; hierauf versucht die Lyrik Sprache und Klang an die neue
Empfindung zu gewöhnen, die unruhig nach lebendigem Ausdruck ringt; und
ist die Bewegung in Wahrheit ein Prozeß im geistigen Organismus des
Volkes und nicht bloß die Konstruktion eines berechnenden kleinen Kreises,
dann dauert es auch nicht lange, bis das Dramu in Erscheinung tritt, der
echteste Prüfstein einer literarischen Erneuerung. In ständiger Beziehung zu
diesen Stadien verläuft parallel die Entwicklung des Romans. Die geistige
Bewegung, die Mitte der Achtzigerjahre ihren Anfang nahm, hatte alle
diese Phasen bis um 1895 mit der ganzen Rücksichtslosigkeit ihres Lebens¬