VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Friedrich Thieberger, Seite 2

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166 Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes.
rechtes durchlaufen und selbst in den brachgelegenen deutschen Gebieten neue
Kräfte in Tätigkeit gesetzt; mir liegt der Hinweis auf das literarische Erwachen
meiner engeren Heimat Böhmen nahe, das nach jahrzehntelangem Schlafe eine
so männlich aufrechte Gestalt wie Friedrich Adler in die Reihen der neuen
Dichter stellte.
Bis 1890 war die Bewegung gewalttätig revolutionär. Ihre Arbeit
bestand darin, das poetische Fühlen umzuackern, ihre Mittel waren neue und
noch von keinem Genie geheiligte Stoffe und eine Form, die allem bis dahin
als Form bezeichneten widersprach. Aber die zweite Hälfte des Jahrzehnts
bis 1895 — bedeutete einen Rückgang des äußern Naturalismus. Man
hatte es nicht mehr nötig, dem traditionellen Rhythmus in allen poetischen
Dingen auszuweichen, man brauchte nur auf dem neugewonnenen Boden mit
neuen Augen zu schauen und zu gestalten. Das Symptom des Kampfes gegen
die Tradition hörte auf. Alle dichterischen Persönlichkeiten, die seit 1890 auf¬
traten, zeigen selbst dann, wenn sie sich in Gegensatz zum Frühnaturalismus
stellten, jene Selbstverständlichkeit des Voraussetzungslosen, jenen Mut zum
Wunderbar=Gewöhnlichen, jene Frische des ungeglätteten Wirklichkeitssinnes,
die schließlich auch Zeichen des radikalen Naturalismus waren. Von diesem
Gesichtspunkte aus erscheinen uns ihrer Weltanschauung nach sonst verschiedene
Dichter, wie der damals entdeckte Lilieneron und Dehmel, wie Wedekind und
Schnitzler als einheitlicher Ausdruck der jungen Dichterschichte zwischen 1890
und 1895. Bei Schnitzler macht sich freilich schon der Einfluß einer neuen
Unterströmung fühlbar, die 1892 in den Blättern für die Kunst den ersten
greifbaren Ausdruck fand: die Poesie der kostbaren Worte. Niemals wären
diese Dichter der aristokratischen Distanz vom Leben, die George, Hofmanns¬
thal, auch Rilke gehört in die Linie dieser Entwicklung, so interessant und ver¬
lockend sie erscheinen mochten, gegenüber dem gewaltigen Durchbruch des
gesunden Naturalismus als gleichwertige Reaktion aufgefaßt worden, wenn
das Geschlecht noch 1895 nicht eine günstige Resonanz gerade für diese Art
der Poesie dargestellt hätte. Jedenfalls ist der Umstand literarhistorisch fest¬
zuhalten, daß alle führenden Dichter auch dieser Nebenströmung bis 1895 in
die Literatur eingetreten waren. Ja, es bleibt charakteristisch für die zwei Jahr¬
zehnte von 1895 bis 1915, daß kaum ein neuer Dichter seine Stimme erhob,
die alle Zeitgenossen im Innersten gepackt hätte, um sie mit dem Schauer der
Seelen=deutenden und Seelen=befreienden Kunst zu erfüllen. Man zehrte
wenn man moderner Literatur sich hingab — nur von dem künstlerischen
und theoretischen Ertrag, den die Dichter aus den Jahren 1890 bis 1895 etwa
boten. Als vor Jahr und Tag die „Fünfzigjährigen“ gefeiert wurden, ehrte
man sie nicht als verdienstvolle Persönlichkeiten einer abgetanen Zeit, sondern
als leitende Poeten unserer Epoche. Und trotzdem haben sich ihre literarischen
Physiognomien, die sie vor 1895 zeigten, kaum geändert. In dem letztverflossenen
Literaturabschnitt haben sie sich nur völlig entfaltet, entwickelt aber haben sie
sich in dem Boden von damals, aus dem sie noch heute ihre besten Kräfte ziehen.
Nach 1895 mehren sich die Zeichen für ein Stagnieren der ganzen Bewegung.
Die alten Kreise hatten sich aufgelöst. Joh. Schlaf suchte nach dem Scheiden