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1. Panphlets offprints
Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 173
Die Dichter aber zogen sich von dem resonanzlosen Volk immer mehr
zurück. Es bildeten sich die kunstaristokratischen Inseln. Nicht nur die Dichtung
sollte für die feinsten Kenner der Technik bestimmt sein, auch die Art der
Darbietung: Privatdrucke, wertvolle Einbände, kostbare Papiere und Typen,
stand im Vordergrunde des vornehmen Literaturinteresses; ihrer wird man
auch in den meisten modernen Büchern an betonter Stelle Erwähnung finden.
Auch auf die Haupt= und Nebenwerke früherer Zeiten dehnte man das Luxus¬
bedürfnis aus; teuere Neudrucke der Klassiker, für die eigene Lettern gegossen
wurden (z. B. die Tempelausgaben), kamen heraus und ebenso stiegen alte
und sogar neuere Erstdrucke ganz außergewöhnlich im Preise. Mit den Mitteln
des modernen Gewerdes konnte auch den hohen Bedürfnissen noch viel gro߬
artiger genügt werden, als in den Tagen des Liberalismus, der zum passiven
Asthetisieren und bequemen Dilettantismus schon manche Ansätze zeigte und
gegen den Hebbel einmal öffentlich die Worte richtete: „Ich bin kein Freund
der Reliquienkrämerei unserer Tage.“
Wie die Kluft zwischen der lebendigen Gegenwartsliteratur und dem
Interesse des Volkes überbrückt werden könnte, wie die Poesie wieder zu
einer Herzenssache der Nation zu machen sei, wurde von vielen theoretisch
erwogen, — ich nenne nur die Heimatkunstbewegung, nicht zufällig zu Beginn
unserer Epoche in Lienhards „Wasgaufahrten“ 1896 vorgeahnt, durch August
Sauer 1908 ausgezeichnet literargeschichtlich fundiert — von vielen wiederum
durch kluge Verbreitung des alten und jungen deutschen Geistesbesitzes zu er¬
streben gesucht. Man denke z. B. an eine in so moderner Volkstümlichkeit
gehaltene Zeitschrift wie die Münchner „Lese“. Alle diese Bemühungen
bleiben aber nur Kinder ihrer Zeit. Nichts aus innerer Nötigung, als die
Früchte einer wirklich volkstümlichen Entwicklung erscheinen sie, sondern als
die zurechtgelegten, kritisch=historischen Überlegungen einzelner, die das Volk,
das unmündige, gleichgültige Volk, „bessern“ möchten. Die pädagogische Ab¬
sicht schimmert durch und trübt Schaffen und Genießen.
Mit der Poesie der kostbaren Worte war naturgemäß auch ein feierlicher
Klang der Sätze und Verse gegeben. Eine jüngste Gruppe von Lyrikern suchte
nun diese ganz Art der Poesie dadurch zu überwinden, daß sie den Versen
ihren Musikgehalt entzog. Das war aber nur durch eine „Konstatierungs¬
prosa“ mit zufälligen Reimen möglich oder durch eine Nebeneinanderfügung
von schwerfälligen, klangmeidenden Wortballen. Mir fallen zufällig Namen
ein, wie Schikele (in vielen seiner letzten Gedichte), Wolfenstein, Zech. Ob
diese Art der Lyrik entwicklungsfähig ist, berühre ich nicht. Jedenfalls läßt
sie noch nackter als die Poesie des großen Wortes die Grundzüge der Epoche
hervortreten.
Aber auch dort, wo wir einer Kunst begegnen, die scheinbar außerhalb des
Zeitraumes nach neuen Zielen weist — oftmals bei Schmidtbonn, öfters bei
Eulenberg — wird man die bereits charakterisierten Merkmale der Epoche nicht
verkennen: neben einer durchaus klaren Sprache, die jeder Pose ausweicht,
neben machtvollen Stimmungen und dem Hinwenden zu ewigen Menschheits¬
problemen, die freilich mehr angedeutet als gedeutet erscheinen, findet man be¬
1. Panphlets offprints
Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 173
Die Dichter aber zogen sich von dem resonanzlosen Volk immer mehr
zurück. Es bildeten sich die kunstaristokratischen Inseln. Nicht nur die Dichtung
sollte für die feinsten Kenner der Technik bestimmt sein, auch die Art der
Darbietung: Privatdrucke, wertvolle Einbände, kostbare Papiere und Typen,
stand im Vordergrunde des vornehmen Literaturinteresses; ihrer wird man
auch in den meisten modernen Büchern an betonter Stelle Erwähnung finden.
Auch auf die Haupt= und Nebenwerke früherer Zeiten dehnte man das Luxus¬
bedürfnis aus; teuere Neudrucke der Klassiker, für die eigene Lettern gegossen
wurden (z. B. die Tempelausgaben), kamen heraus und ebenso stiegen alte
und sogar neuere Erstdrucke ganz außergewöhnlich im Preise. Mit den Mitteln
des modernen Gewerdes konnte auch den hohen Bedürfnissen noch viel gro߬
artiger genügt werden, als in den Tagen des Liberalismus, der zum passiven
Asthetisieren und bequemen Dilettantismus schon manche Ansätze zeigte und
gegen den Hebbel einmal öffentlich die Worte richtete: „Ich bin kein Freund
der Reliquienkrämerei unserer Tage.“
Wie die Kluft zwischen der lebendigen Gegenwartsliteratur und dem
Interesse des Volkes überbrückt werden könnte, wie die Poesie wieder zu
einer Herzenssache der Nation zu machen sei, wurde von vielen theoretisch
erwogen, — ich nenne nur die Heimatkunstbewegung, nicht zufällig zu Beginn
unserer Epoche in Lienhards „Wasgaufahrten“ 1896 vorgeahnt, durch August
Sauer 1908 ausgezeichnet literargeschichtlich fundiert — von vielen wiederum
durch kluge Verbreitung des alten und jungen deutschen Geistesbesitzes zu er¬
streben gesucht. Man denke z. B. an eine in so moderner Volkstümlichkeit
gehaltene Zeitschrift wie die Münchner „Lese“. Alle diese Bemühungen
bleiben aber nur Kinder ihrer Zeit. Nichts aus innerer Nötigung, als die
Früchte einer wirklich volkstümlichen Entwicklung erscheinen sie, sondern als
die zurechtgelegten, kritisch=historischen Überlegungen einzelner, die das Volk,
das unmündige, gleichgültige Volk, „bessern“ möchten. Die pädagogische Ab¬
sicht schimmert durch und trübt Schaffen und Genießen.
Mit der Poesie der kostbaren Worte war naturgemäß auch ein feierlicher
Klang der Sätze und Verse gegeben. Eine jüngste Gruppe von Lyrikern suchte
nun diese ganz Art der Poesie dadurch zu überwinden, daß sie den Versen
ihren Musikgehalt entzog. Das war aber nur durch eine „Konstatierungs¬
prosa“ mit zufälligen Reimen möglich oder durch eine Nebeneinanderfügung
von schwerfälligen, klangmeidenden Wortballen. Mir fallen zufällig Namen
ein, wie Schikele (in vielen seiner letzten Gedichte), Wolfenstein, Zech. Ob
diese Art der Lyrik entwicklungsfähig ist, berühre ich nicht. Jedenfalls läßt
sie noch nackter als die Poesie des großen Wortes die Grundzüge der Epoche
hervortreten.
Aber auch dort, wo wir einer Kunst begegnen, die scheinbar außerhalb des
Zeitraumes nach neuen Zielen weist — oftmals bei Schmidtbonn, öfters bei
Eulenberg — wird man die bereits charakterisierten Merkmale der Epoche nicht
verkennen: neben einer durchaus klaren Sprache, die jeder Pose ausweicht,
neben machtvollen Stimmungen und dem Hinwenden zu ewigen Menschheits¬
problemen, die freilich mehr angedeutet als gedeutet erscheinen, findet man be¬