VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Josef Karl Ratislav, Seite 2

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1. PanphietsOfforints
Heft 0 u. 10
„Die Quelle“
Seite 8
Arthur Schnitzler hat uns bereits 22 Bücher
Aber schon das nächste Buch „Caritas“ (1904)
geschenkt. Der mir zur Verfügung stehende Raum
hatte einer geschrieben, der den bitteren Realismus
macht es leider unmöglich, auf diese Werke so
des Lebens am eigenen Leibe erfahren hatte.
einzugehen, wie sie es verdienten. Seinen sieben
Leidenschaftliche Anklage und schärfste Ironie
Einaktern „Anatol“ (1893), die in diesem Blatte
sprechen aus diesen Erzählungen und kein ver¬
bereits in der Rudolf Greinz=Nummer eingehend
söhnender Ton wird laut. Die Stimmung zweier
besprochen wurden, ließ Schnitzler das Schauspiel
Einakter aus dieser Zeit ist ähnlich. „Die Bild¬
„Märchen“ (1894) folgen, in dem er ein später
schnitzer“ (1900) nennt der Dichter eine „Tra¬
oft variiertes Thema anschlägt: „Die unberührte
gödie braver Leute" und in „Karrnekleut“
Jungfräulichkeit des Weibes vor der Ehe.“ Die
(1904) schauen wir das ganze Elend des Volkes,
Novelle „Sterben“ (1895) zeigt mit erschüttern¬
dessen Heimat die Landstraße ist.
der Tragik, wie die Gewißheit eines nahen Todes
Das fünfaktige Drama „Sonnwendtag“
die edelsten Gefühle im Menschen allmählich er¬
(1902) ist ganz zeitgemäß. Klerikale Bauern und
tötet, wie wir feig werden und brutal, wie die
deutschnationale Turner geraten aneinander und
Angst vor dem Tode unser ganzes Denken und
zwischen beiden Parteien steht ein Student, der
Fühlen umklammert. Das Schauspiel „Liebelei“
nicht Geistlicher werden will, obwohl dies der
(1896) machte den Dichter berühmt. Es ist aus
Herzenswunsch seiner Mutter ist.
der Stimmung „Anatols“ herausgeschrieben. Die
Hatte Schönherr mit seinem Stück „Familie“
Tragik des Stückes spricht Christine, eine
(1906) keinen dauernden Erfolg erzielt, so begrün¬
wahrhaft Gocthesche Gestalt so aus: „Ich bin
dete das Drama „Erde“ (1907), eine „Komödie
ihm nichts gewesen als ein Zeitvertreib — und für
des Lebens“ genannt, seinen Ruhm. Der Grund¬
eine andere ist er gestorben!" Eine harte Anklage
gedanke dieser an glänzender Charakteristik über¬
gegen die Gesellschaft wird im „Freiwild“ (1898)
reichen Dichtung läßt sich durch einen Satz aus
erhoben. Schnitzler verstand es hier trefflich, das
„Sonnwendtag ausdrücken: „... daß unser
tragische Los der Provinzschauspielerinnen auf
Kind ein Heimatl haben soll, so wie ich eins
das Theater zu bringen. Aus der Novelletten¬
g’habt hab und wie du eins g’habt hast, und wie
sammlung „Die Frau des Weisen“ (1898)
unsere Eltern und alle vor uns ein Heimatl g’habt
sei als Meisterwerk das Seelengemälde „Ein
hab'n.“ Grund und Boden unter den Füßen zu
Abschied“ hervorgehoben. Daß die freie Ehe
haben, der ein eigener ist, und sei er felsenhart
oft viel erhabener und heiliger ist als die vor
gefroren, das ist der einzige Wunsch der Menschen
dem Priester geschlossene, beweist das Schauspiel
in „Erde“. Wie innig sie mit dieser Erde ver¬
„Das Vermächtnis“ (1898).
wachsen sind, das zeigen die Worte des alten Grutz,
„Wir spielen immer; wer es weiß ist klug.“
der immer wieder von seinem Siechenbett aufkommt:
Dieser Satz ist das Leitmotiv von Schnitzlers
„Wer mir auf mein Feld über die Jungsaat hin¬
Werken und er kehrt stets in irgend einer Form
lauft... da ist mir's grad, als trampelt mir eins auf
wieder. Deutlich behandelt ist er zum erstenmal
mein' Leib umanand'! Wer mit der Hack'n in meine
in dem Versspiel „Paracelsus“, das mit dem
frischen Waldbäum' einhaut — der trifft mi'!“
ergreifenden Schauspiel „Die Gefährtin“ und
Nachdem der Dichter mit seinem Märchendrama
der genialen Groteske „Der grüne Kakadu“,
„Das Königreich“ (1908) vergebens versucht
die am Vorabende der französischen Revolution
hatte, sich von der Scholle loszureißen, stellte er
(am 14. Juli 1789) in Paris spielt, 1899 erschien.
in der Komödie „Über die Brücke (1909,
Die zehn Dialoge „Reigen“, laut Vorwort
ein neues Heimatsproblem auf: das leichte Blut
geschrieben im Winter 1896/97, gedruckt 1903,
des Schauspielers, der überall daheim ist, mit
ein so vielfach mißverstandenes Werk, behandeln
dem schweren Blut der an der einen Heimat
die Liebe in ihrer konkretesten Form von der
hängenden Frau zu verbinden.
niedrigsten Gemeinheit bis zur feinsten Erotik
In „Glaube und Heimat“ (1916) ent¬
als satirisches Gegenstück zum Anatolzyklus. In
fesselt dann das Bibelwort „Du sollst dich
dem Schauspiel „Der Schleier der Beatrice“
zum wahren Glauben bekennen!“ diesen
(1900), hat Schnitzler Wiener Menschen in das
gewaltigen inneren Kampf, den Schönherr mit
Kostüm der Renaissance gekleidet. „Das Leben
der Meisterschaft des reifen Künstlers zur Dar¬
ist die Fülle, nicht die Zeit“ verkündet der
stellung brachte. Das Drama erhielt den Grill¬
Herzog am Schlusse. Wieder ein Seelengemälde
parzerpreis und trat, allen rückschrittlichen
mit schärfster Psychologie gezeichnet und zugleich
Geschichtslügen zum Trotz, einen Siegeslauf
eine bittere Satire auf enge Standesvorurteile
durch die ganze Welt an. An Erfolg ist des
tritt uns in der Novelle „Leutnant Gustl“
Dichters jüngstes Werl „Aus meinem Merk¬
(1901) entgegen. Das letzte Aufflackern der Jugend¬
buch“, das bereits im vorigen Hefte eingehend
ideale einer verwitweten Frau zeichnet Schnitzler
gewürdigt wurde, nicht zurückgeblieben.
mit drastischer Wahrheit in der Prachtnovelle
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ich lebe, würden
*) Aus „Dämmerseele
geb. Mk. 4.—, Fast alle A
Verlage S. Fischer, Ber