VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Julius Bab Schaubühne, Seite 1

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Die Schaubühne
Dramatischer (Nachwuchs.
Vor anderthalb Jahrzehnten war man ein aschgrauer Pessimist und
beinahe ein schlechter Mensch, wenn man nicht glaubte, daß die große
neue Blüte des deutschen Dramas dicht bevorstehe und beinahe schon da
sei! Der kampffrohe Enthusiasmus der „Freien Bühne“ zitterte noch
nach im jüngern Teil des literarischen Publikums und die Fülle neuer
Talente, die in so kurzer Zeit zu Tage traten und deren Namen sich in
dem halben Jahrzehnt von 1890 bis 1895 wie starke, frohe Versprechungen
ins Licht der Bühne drängten, diese üppig wuchernde, jäh aufschießende
Fülle schien jede Hoffnung zu rechtfertigen. Wenn nach der schlimmsten,
lebenverlassensten Zeit, die die deutsche Kunst je durchgemacht hat, wenn
nach den Jahren, wo Lindaus und Blumenthals „ernste Dramen“ die
Szene beherrscht hatten, ein Talent von der Reinheit und In¬
brunst Gerhart Hauptmanns die Bretter eroberte, wenn Halbes „Jugend“,
Hirschfelds „Mütter“, Schnitzlers Liebelei“ Schlag auf Schlag neue Bühnen¬
dichter, wirkliche Dichtet Mzutündigen schienen — wenn Holz und
Schlaf und Hartleben und Rosmer und andre mehr lauter, lanter neue
deutsche Dramatiker schienen — wer hätte da nicht schwärmen dürfen?
Wer hätte nicht im berückenden Morgenlicht des neuen Tages sich ein
wenig in den Physiognomieen irren und auch Leute wie Wolzogen,
selbst Sudermann, ja sogar Fulda, die doch in aller Reinlichkeit den ur¬
alten Typus des handwerkfesten, modebeflissnen Bühnenarbeiters darstellten,
für neue Dichter halten können?! Soviel neue Talente — und dazu ein
neuer Stil, der neue Realismus, auch Naturalismus genannt, der all
diesen jungen Kräften gemeinsames Gut schien, sie als eine Schule, als
Träger einer einheitlichen Bewegung wirken ließ — wer hätte nicht
glauben, hoffen und weissagen sollen: Der Tag des großen neuen
deutschen Dramas steht vor der Tür. -
Was man zuerst als argen Irrtum erkannte, das war der „neue
Stil“. Der von Holz entdeckte, von Brahm gepflegte „Naturalismus“
ist wohl die bislang absurdeste Verirrung in der großen Geschichte der
Asthetik. Daß ein Menschenalter nach Hebbels Tode noch derlei Kunst¬
theorie in Deutschland ernsthaft und wirksam geäußert werden konnte,
ist der stärkste Beweis, wie sehr dem Volk der Dichter und Denker im
Zeitalter Darwins und Bismarcks jede ästhetische Bildung abhanden ge¬
kommen war.
„Freunde, ihr wollt die Natur, nachahmend, erreichen — o Torheit!
Kommt ihr nicht über sie weg — bleibt ihr auch unter ihr stehn.“
Man blieb sehr weit unter ihr stehn. Man fühlte bald, daß die
Kunst, die „die Tendenz hatte, möglichst genau wieder Natur und nichts