VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Julius Bab Schaubühne, Seite 2

2. Cuttings
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Die Schaubühne
als Natur zu werden“ ein Unding war, das nur durch Inkonsequenz
gegen sein ausgesprochnes Prinzip bestand, und daß sie, soweit der Ein¬
fluß ihres Prinzips reichte, für ewig ausgeschlossen war von dem heiligen
Kreise der großen erschütternden Wirkung, die wahre Kunst übt — weil
sie in einem erneuten Schöpfungsalt die Dinge der Natur einer höhern
Form einordnet, so etwa wie die schöpferische Natur die wahren Elemente
im Organismus schon einmal zu einem neuen Formsinn verband. —
Die Unfruchtbarkeit des neuen Stils für das große Drama empfand
man schnell. Das große Drama — das hieß ja den Kampf der über¬
individuellen geheimen Kräfte zeigen, die im Leben, in der Natur stets
empfunden, nie angeschaut werden. Diesem Kampf sichtbare Form leihen,
das hieß ja, von der „Natur", im hölzernen Sinne der Wirklichkeits¬
dogmatiker, sich so schneidend wie denkbar abwenden. In der Tat ist
denn auch keiner der jungen Bühnennaturalisten von 1890 dem „Pro¬
gramm“ jemals treu gewesen. Aber wenn das Prinzip sich als Hemmung
erwies — konnte man nicht ohne, nicht gegen die Theorie siegen? So
gewiß das Holz=Brahmsche Dogma ein Armutszeugnis für den ästhe¬
tischen Geist der Zeit war — daß neues Leben, neues Kunstgefühl auf¬
erstanden war in der neuen Generation, das bewies die Flut der jungen
Talente doch zweifellos. Konnte nicht der gesunde Instinkt die neuen
Kräfte abseits von aller theoretischen Einsicht doch zum großen Ziele
führen? — Gewiß konnte er! Wenn nur die Kräfte ausreichten —
Ich glaube, man kann schon heute ein ziemlich endgültiges Resümee
ziehen und sagen: Die Generation von 1890 hat uns das neudeutsche
Drama großen Stils nicht geschenkt und sie wird es uns auch nicht mehr
schenken. Über die gröbsten Fälle ist man sich ja heute einig: daß
weder das Sudermannsche Geschäftsverfahren, die Zuschauernerven
tunlichst zu reizen, noch das Fuldasche, selbige Nerven tunlichst zu
streicheln, zum Stil eines neuen Dramas führt, das haben inzwischen
wohl auch Schwachbegabte begriffen. Man sieht auch ein, daß kein
Wesensunterschied ist zwischen solchen gebornen Bühnenarbeitern und den
gefallnen Dichtern, denen, die trotz völliger Verausgabung des innern
Besitzes, bei dessen Gestaltung sie einmal Künstler waren, aus Selbst¬
täuschung und Eitelkeit und wirtschaftlichem Bedürfnis beim Metier
bleiben und kaltlächelnd jedes Jahr ihr Theaterstück herstellen. Daß ein
Mann wie Max Dreyer in diesem Falle ist, das bestreitet heute kaum
noch ein Einsichtiger, — aber wird selbst das verhängnisvolle Wohl¬
wollen der guten Freunde sich noch lange der Einsicht verschließen können,
daß auch die Dichter der „Jugend“ und der „Mütter“ zu diesen Früh¬
verarmten gehören? Schnell und gründlich Verarmte, denen doch Einsicht
oder Mut gebrach, um ehrlich zu entsagen, und die in Stücken von