VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Max Lorenz, Seite 2

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PanhetOCnrints
War Lorenz. Moderne Tillerakurströmungen.
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Menschenwelt durchflutet. So kommt es denn, daß die
an eine Wandelbarkeit der „Ideale“ zu glauben nur schwer
naturalistische Kunst auf ihrer Höhe zweierlei in sich ver¬
sich entschließen können. Und doch haben wir es vor zwei
einigt zeigt: Naturtreue in der Darstellung der einzelnen
Jahrzehnten etwa alle, mit Unwillen vielleicht, vernommen,
Erscheinungen der Außenwelt und die Neigung zu sozialen
daß eine „neue Richtung“ in der Litteratur uns die Schön¬
Problemen und Tendenzen. Das in jeder Beziehung klas¬
heit der idealistischen Kunst eines Schiller als Lügen¬
sische Werk des Naturalismus ist demgemäß — die Leser
schönheit verekeln wollte. Nicht Schönheit — Wahrheit
wissen es im voraus Hauptmanns Webertragödie.
sollte das Schlagwort sein. Und heute schließlich haben
„Alles fließt“ — und alles fließt heute mit rasender
sich viele, sehr viele, bis in die kleinsten Städte hinein,
Geschwindigkeit, in unserm Zeitalter der D=Züge und
damit abgefunden, in dem Heros des Naturalismus, in
Schnelldampfer. So kommt es denn, daß heute auch schon
Gerhart Hauptmann, einen großen Dichter zu sehen, der
wieder jener Naturalismus, der Ausgangspunkt moderner
des Grillparzerpreises mehrfach für würdig befunden ist
Kunstentwickelung, überwunden worden ist. Und alles fließt
und dem auch die Auszeichnung des Schillerpreises nicht
nicht nur — alles springt von diesem Extrem zu jenem, be¬
entgangen wäre, wenn nicht die gute Absicht getreuester
wegt sich in Gegensätzen. Auch das hat übrigens schon jener
Freunde an einer höchsten Stelle in die Brüche gegangen
Heraklit der Dunkle gewußt und gelehrt, wie es nachher,
wäre.
so viel, viel später Hegel seinem System zu Grunde gelegt
Die Wahrheit also wollte der Naturalismus an
hat und wie wir es heute noch als Thatsache auch an der
Stelle der Schönheit setzen, und jene sollte der Leitstern
modernsten Litteraturentwickelung studieren können. Auf
der Kunst werden. Die Schönheit wurde unter andern
den Wirklichkeitsdrang einer naturalistischen Kunstrichtung
Gründen auch darum entthront, weil man nämlich nicht
ist eine Periode des Mysticismus und der Romantik ge¬
recht mehr wußte, was eigentlich Schönheit und schön sei.
folgt. Und auch dieser Sprung läßt sich erklären. Wenn
„Aber das weiß man doch, oder das braucht man gar nicht
es ein Erfordernis der naturalistischen Kunst ist, daß die
zu wissen: das fühlt man einfach“ — wird vielleicht manche
Menschenseele, die Künstlerseele in den zu betrachtenden und
schöne Leserin auszurufen geneigt sein. So einfach aber
darzustellenden Erscheinungen der Außenwelt aufgehe, so
ist die Sache denn doch nicht. Ueber Gefühle läßt sich
kann dieses Aufgehen doch nur ein begrenztes sein. Denn die
streiten, genau so wie über den Geschmack. Der ästhetisch
Seele gerade des Künstlers ist von vornherein reicher veranlagt
und philosophisch beschlagene, gelehrte Leser weiß, daß man
und tiefer gegründet und strebt zu höheren Höhen, um an den
in recht komplizierter Weise die Schönheit früher aus einem
Dingen der Außenwelt sich wirklich ganz zu verlieren. Sie
letzten, allem Sein zu Grunde liegenden geistigen Welt¬
braucht sich nicht ganz herzugeben und zu verlieren, um die
prinzip abgeleitet hatte. Wenn es nun aber mit jener
Menschen und Dinge der Außenwelt zu erschöpfen. Einen Teil
idealistischen Philosophie, die durch die naturalistische Natur¬
und gerade den feinsten und eigensten seines Selbst braucht
wissenschaft abgelöst wurde, zu Ende war, dann war es
der Künstler nicht mehr hinzugeben, um das, was ihn um¬
auch mit jenem Schönheitsideal und seiner Ableitung zu
gibt, zu verstehen und zu begreifen. Und dieses eigenste
Ende. Die neue, naturalistische Kunst mußte nun ganz
Selbst nun, das über die materielle Natur hinausragt, das
genau dasselbe machen, wie die Naturwissenschaft. Sie
höher empor= und auch tiefer hinabragt, als der Durch¬
mußte nämlich unvoreingenommen, ohne Vorurteil vor die
schnitt ringsum, trachtet danach, sich künstlerisch zu objek¬
Erscheinungen der Außenwelt treten und sie objektiv zur
tivieren, sich sichtbarlich darzustellen in einer ihm ent¬
Darstellung zu bringen suchen. Seht her, — so ist es —
sprechenden, das heißt feineren, reicheren Welt. Und was
das war zunächst das Ergebnis naturalistischen Kunst¬
in der materiellen Wirklichkeit nicht möglich ist, gelingt
schaffens; Naturtreue, objektive Nachahmung der Wirklich¬
in einer geträumten Welt der Phantasie. So kommt die
keit — darauf kam es zunächst an. Man kann aber zu
Kunstentwickelung vom Naturalismus zur Poesie des Mär¬
einer objektiven, naturgetreuen Anschauung und Darstellung
chens und der Welt des Mysticismus. So dichtete schon
der Dinge der Außenwelt nur gelangen, wenn man sich
Hauptmann, der Klassiker des Naturalismus, den zweiten
ihnen mit ruhiger Seele ganz hingibt, sich durch nichts
Teil des „Hannele“ und die „Versunkene Glocke“.
andres in der Betrachtung stören läßt. Seelische Hingabe
Der Dichter des ausgeprägtesten Mysticismus ist der
an den Gegenstand der Betrachtung, völliges Ein= und
in französischer Sprache schaffende Belgier Maurice Maeter¬
Aufgehen gegenüber den Gegenständen der Außenwelt ist
linck. Er verzichtet von vornherein auf jede exakte Dar¬
die psychologische Voraussetzung alles naturalistischen Kunst¬
stellung der Außenwelt. Alles ist Innenleben. Und dieses
schaffens, übrigens auch aller naturwissenschaftlichen For¬
innerste Leben der Seele ist voll von Geheimnissen und
schung.
Ahnungen. Die Menschenseelen sind von irgend einem
Mit diesem völligen Eingehen in die Dinge ist not¬
freieren, herrlicheren, geheimnisvolleren Ort auf die Erde
wendigerweise ein gewisses Einswerden mit ihnen verbun¬
gebannt wie in ein furchtbares, unterirdisches Verließ. Einen
den. Wenn ich mich einer Sache hingebe, gehe ich natur¬
Ort des Lichts und der Seligkeit haben die Seelen mit
gemäß in ihr auf, werde mit ihr eins, werde wie sie, fühle
einer Stätte der Finsternis und der Schrecknisse vertauschen
wie sie. Ich kann mir nur dann von einem Menschen eine
müssen. Das ist die Grundstimmung in den meisten
genaue und getreue Vorstellung machen, wenn ich ihn
Dramen Maeterlincks. Für diesen Mystiker ist das wahre
ganz begriffen, ganz erkannt habe. Und ganz erkennen
Wesen der Welt Seele und alles Leibliche ist äußerliche
und verstehen kann ich nur das mir Aehnliche oder gar
und unwichtige Hülle. „Es wird vielleicht eine Zeit kom¬
Gleiche, das mir innerlichst verbunden ist, mit dem ich
men — und es sind viele Anzeichen vorhanden, daß sie
mitfühle in Mitleid und Mitfreude. So zeigt sich denn im
nahe ist —, eine Zeit wird vielleicht kommen, wo unsre
Bunde mit der naturalistischen Naturtreue ein menschliches
Seelen sich ohne Vermittelung der Sinne erblicken werden.
Mitfühlen, ein stark ausgeprägtes Mitleid. Dieser Zug
Es steht fest, daß sich das Reich der Seele täglich mehr
des Mitleids macht sozialem Empfinden geneigt und be¬
gegnet sich hier mit dem sozialen Strom, der unsre heutige verbreitet. Sie ist unserm sichtbaren Wesen viel näher und
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