VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence, Seite 1

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„Décadence
Von Otlollar Stauf von der March. (Wien.)
Die Neurotischen.
Falls nach hundert und mehr Jahren ein Menich, ob „gebildet“ oder „unge¬
bildet“ ist ganz egal, vorausgesetzt, daß es überhaupt noch Einen gibt, der sich um
Gedrucktes schert, ein Buch unseres Zeitalters in die Hand nehmen und lesen wird,
so dürfte er aus dem berühmten „Schütteln des Kopfes“ wie es der alte Kortum in
seiner Jobsiade schildert, nicht so bald herauskommen.
Trotz der weltfernen Kulturperiode ist uns ein Homer, ein Pindar, ein Aeschylos,
— von Dante,
ja selbst ein Valmiki und Vjasa (Mahabharata und Ramayana)
auch in den subtilsten Stim¬
Tasso, Calderon und Shakespeare ganz abgesehen
mungen seiner Seele klar und verständlich; unsere zeitgenössischen Dichter aber werden
es dem Enkel nach der verhältnismäßig lächerlichen Zeitspanne eines Säkulums nicht,
oder im geringsten Falle doch weit, weit minder, als die genannten mehr oder weniger
sagenumwobenen Dichterfürsten sein.
Das Herumtaumeln zwischen der modernen Skylla und Charybdis: Genuß und
Ekel, das fieberische Tappen und Tasten, die elementaren Ausbrüche rasendster
*Leidenschaft und gleich darauf, fast im gleichen Athemzuge: die Auslassungen schlaffster
Apathie, die halsbrecherische Equilibristrit auf dem zum Zerreißen angestrafften
Nervenseil, und = Ende gut, Alles gut — das dumpfe, schwere Kolorit, die neu¬
Alles in Allem: die Deendenee (es ist ungemein
rasthenische Athmosphäre
Scharakteristisch für den Teutschen, daß er hier eine Anleihe beim französischen Port¬
schatze machen muß), wie sie leibt und lebt, oder besser gesagt: vegetirt, wird dem
Litteraturfreunde der Zukunft ein siebenfach gesiegeltes Buch, oder um mich hand¬
grefflicher auszudrücken: ein böhmisches Dorf sein.
Diese leider nicht Goethe'sche „Wirkung in die Ferne“, läßt sich einerseits mit
Zuhilfenahme der zeitpsychologischen Momente erklären, andererseits aber aus dem
Bestreben der betreffenden Antoren: recht große Sensation zu machen, herleiten.
Uebergangsepochen zeichnen sich immer durch Zerfahrenheit, innere, wie äußere
Verbummelung, Begriffsverwirrung, nebulose Weltanschanung aus, und unsere Zeit
ist eben eine Uebergangsepoche par excellenee. Wir nähern uns einem neuen Welt¬
theil. Der Tiefgang unseres Fahrzenges ist sehr bedeutend. Wir haben keine Ahnung
von der Beschaffenheit des das Land der Verheißung umgebenden Meerwassers. Um
nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, auf irgend eine Untiefe zu laufen, müssen wir
den Ballast beseitigen.
Das sind die alten, von den Vätern ererbten Ideen, die indossirten Wechsel
der Urahnen. Einem Theile der Schiffsgenossen gilt die Hinterlassenschaft nichts, dem
andern hingegen alles. Jene fordern die Wegschaffung derselben, diese widersprechen.
Tumuli, Streit, Hin und Her der Ansichten, und da eine Einigung unmöglich,
Kampf auf Leben und Tod zwischen der alten und neuen Zeit, indes unser steuer¬
loses Schiff mit vollen Segeln der neuen Welt zuschießt, ohne Rücksicht auf Untiefen
und Wasserwirbel.
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Insofern nun die Dichtung nicht etwas Abgeschlossenes, vermittelst starrer
Dogmen Verklausuliertes ist, wie z. B. die Theologie, der eben darum die Zeit¬
einflüsse nichts anhaben können, insofern der Dichter endlich und schließlich doch nur
ein Produkt seiner Zeit ist und vom Milien derselben die mächtigsten Auregungen
erhält, kann es Niemand Wunder nehmen, daß das Spiegelbild ebenso zerfahren,
verschwommen aussieht, wie das Original, und die Dichtung einen nicht weniger
unbestimmten, unverständlichen Charakter aufweist, als die Zeit. Daß übrigens die
Formen des rückgespiegelten Zeitsegments vielfach karrikiert erscheinen, liegt lediglich