VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence, Seite 2

PanphletsOfforints
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an dem chromatischen Reflektor, der Iudividualität des Dichters. Ma studiere in
dieser Beziehung die Sturm= und Drangzeit. Mutatis mutandis dieselbe Geschichte.
Leidenschaftlichkeit, Sentimentalität, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, ganz
wie unsere Deeadenen. Freilich die Stürmer und Dränger an der Schwelle des
XIX. Jahrhunderts wollten leben und nicht sterben, die Dekadenten an der Pforte
des XX. Jahrhunderts aber wollen nicht leben und auch nicht sterben; die wohl¬
lüstige Selbstmarter ist ihre Lebensparole.
Ich liebe die hektischen, schlanken
Narzissen mit blutrotem Mund,
Ich liebe die Qualengedanken,
Die Herzen zerstochen und wund,
sagt einer von ihren Chorführern (Felix Dörmann und schließt mit den, für seine
Richtung bedeutungsvollen Worten:
Ich liebe, was Niemand erlesen,
Was keinem zu lieben gelang,
Mein eigenes, tiefinnerstes Wesen,
Und alles, was seltsam und krank
In der That, sie „lieben alles, was seltsam und krank“ ist, Krankheitsstoffe aber
flattern zu Millionen in der Luft herum; wir branchen nur ein paar Tage Gro߬
stedtatmosphäre zu atmen, und wir besitzen das zweifelhafte Vergnügen, eine Herde
von Bazillen im Leibe zu haben. Um krank zu werden, dazu bedarf es von vorn¬
herein einer gewissen, perversen Naturanlage. Wer zum Cholerabazillus nicht inkliniert,
dem schadet er nicht viel. Vom Bazillus der Deendenee gilt das gleiche. Zum
Dekadenten muß man talentiert sein, d. h. man muß seidene Nerven besitzen, die
beim geringsten Luftzug ein verwirrendes Stimmungs=Tremolo tanzen, weiters
Empfänglichkeit für duftige Farben und farbige Düfte, endlich in den Handgriffen
und Kunstpfiffen der Selbstpeinigung Romine haben. Kommt zu dem allen noch eine
rationelle oder auch unrationelle Dosis von eleganter Pose, ein Kursus in der
Akademie für höhere Schminkkunst,
so ist der Dekadent fir und fertig.
Der Entwicklungsgang eines solchen Dichters kann sich naturgemäß niemals in
aufsteigender Linie bewegen. Das süße Spiel der Nerven lähmt die Willenskraft,
die Stimmungen erdrücken die Empfindung, — kurz, das Gangliensystem prävaliert
immer und überall. Die Folge ist Effemination, Verweibsung des Geistes,
und
dagegen ist kein Kraut gewachsen, — der Zersetzungsprozeß schreitet stetig vor. Zu¬
letzt schlägt die Nervosität in Tobsucht um, die freigebig verstreuten Farben und
Düfte bilden ein schier unabsehbares Tohnwabohn von blühendem Unsinn. Als
Beispiel hierfür kann Arents Gedichtsammlung „Drei Weiber“ dienen. Das Buch
ist die Endstation auf der Etappe der Déendence.
Für die ersten Momente ist der Eindruck, den dekadente Gedichte machen, auch
auf den nicht neurotisch=angelegten Menschen nicht ungünstig: Das „halbe, heimliche
Empfinden“, wie der Dekadent Loris=Hoffmannsthal im poetischen Vorworte zum
„Anatol“ seines Freundes und Mitstrebenden Arthur Schnitzler sagt, die seltsame
Konleur, das weiche, einschmeichelnde Milien=retzt und zieht ebensosehr an, als
beispielsweise Chopin's geisterhafte Musik. Bei schärferem Hinhorchen aber wird einem
das Morbide, Entnervende klar, das in diesen Gedichten sein Wesen treibt und das
in unbewachten Seelen destruktiv wirkt. Geradeso wie beim Alkohol oder Ronge et
noir! Die paar Züge, die paar Spielchen schmecken und die Aufregung während des
Spieles, das Ränschchen nach dem Trunke thun ihr übriges
„Gewohnheit
nennt er seine Amme,“ heißt es im Wallenstein" Man ist Dekadent, d. h. weder
„Mandl noch Weibl', wie wir Nordmährer zu sagen pflegen.
Abgesehen von dieser verderblichen Einwirkung auf die jüngere und jüngste
Generation, ist es doch eine Thorheit, die Deeadenee zu bekämpfen, ich meine damit: