VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence, Seite 4

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Pamphletsofforints
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ohne Ironie nennt — „Fertig=Gewordenen“, oder noch besser, der: „Mit — sich —
selbst
Fertig=Gewordenen“ bemerkbar zu machen, übertreibt Arent nach allen
Richtungen und wird somit noch um ein Bedeutendes unverdaulicher und widerlicher
als diese
A... Sommerfeld (F 1896), der zweite und letzte Norddeutsche, der dem
Dekadenten Konzessiösen macht, besaß wohl einen hinlänglichen Fond zum Fin de¬
siselezisten (Wetterleuchten 1892), aber die oft genug hervorbrechende Kraft im
Ausdruck, sowie die vielfach an Heine mahnende Neigung zur Pointe, der Cynismus
von seiner Sympathie zum Sozialismus ganz zu schweigen, läßt die Nerventhätigkeit
nicht so recht aufkommen. Wenn Sommerfeld in cynischer Selbstverurtheilung sagt:
In heißem Kinderweinen
Schluchzt unsere Seelennacht,
Bis zwischen Weiberbeinen
Vergessen uns glücklich macht
und den „neuen Glauben“ dahin definirt:
„Das Einzige ist, sein Leben zu retten,
Zu wühlen in seidenen Weiberbetten;
Nur in der Dirne Lockenhaar,
Lacht noch der Himmel, goldhell und klar,
so hört ein feines Ohr stets deutlich heraus, daß es ihm damit vollkommen ernst ist,
daß hier die Verzweiflung spricht, die Verzweiflung über das inhaltlose öde Leben,
zu welchem uns Alle die moderne Zeit verdammt. Solch' einer Selbsterkenntnis
ermangelt der echte Dekadent vollkommen und wenn er irgend einen Anlauf hiezu
nimmt — was übrigens sehr selten vorkommt
—, so erkennt man sofort, daß es
ihm bloß um einen Tric, einen Effekt zu thun ist, wie es wohl ein Trapezkünstler
zu machen pflegt —: erschrocken fährt er mit den Händen umher, als ob er den
Stützpunkt verloren hätte und im nächsten Augenblick herabstürzen müßte, so daß
das Publikum in Aufregung geräth aber gleich darauf zeigt sich der schlaue Gankler
wieder sattelfest und nimmt lächelnd, den Beifall in Empfang.
Die eigentliche Heimat der Ganglien=Korydanten ist Süd=Dentschland, genauer
das Land der möglichen Unmöglichkeiten, vulgo Oesterreich geheißen. Der von
Rassenhaß und Klassenwut zerfressene Boden und das seit Schiller so berühmte und
berüchtigte Phäakenmilien des thönernen Polyglotten sind ausgezeichnete Faktoren,
um den Samen eines Bandelaire, Verlaine u. a. zum Keimen zu bringen und den
resultierenden Embrio in ein stattliches Belladonnengestrüpp zu verwandemn. Neben
dem „goldenen“ Prag, wo die tschechischen Dekadenten (Machar. Kvapel, Karusek u. s. f.)
ihre Residenz aufgeschlagen haben, ist das Capua der Geister unser liebes Wien an
der sogenannten schönen, blauen Donau, das Emporium der hysterischen Richtung.
Günstiger könnte wohl auch keine Stadt der Welt sein. Die erwähnten Faktoren
treten nirgends verstärkter auf, als in der Metropole, wo alle Venen des geistigen
Lebens zusammenmünden. Aber trotz alledem hätte — bei dem im Grunde doch
gesunden Vandeville=Charakter der Wiener — die Décadence keinen so auffallenden
Stich ins Vathologische erhalten, wenn nicht eben semitischer Einfluß vorgewaltet
haben würde. Die meisten Dekadenten sind Semiten, wenigstens der Abstammung
nach, und das Jndentum befindet sich auf der Etappe der physischen und psychischen
Decadenee, trotz all' seiner politischen und sozialen Erfolge, die es in der letzten
Vergangenheit errungen hat und noch erringt. Wie der Verdurstende ohne Rücksicht
auf seine Gesundheit über den dargereichten Wasserkrug herfällt, so ist auch das
jahrhundertlang geknechtete und getretene Volk, als es „emancipiert“ wurde, über die
Kulturschätze seiner Mitbürger hergestürzt, ohne zu bedenken, daß sein Organismus
nicht alles auf einmal verdauen könne. Die Uebersättigung ward noch durch die
Trostlosigkeit der allgemeinen Weltlage gesteigert. Es bedurfte nur eines Anstoßes
von außen und die Nerven begannen ihre Tarantella. Das aufregende Tänzchen
gesiel, und der Wahnsinn ward Methode.