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um nicht von ihm, der die Wirklichkeit sehen mußte, aus ihrem Traum gerissen
zu werden. Tausendmal lieber eine Illusion, als eine Wahrheit. Anatol, dem das
Schicksal Antwort geben konnte auf jene Frage, die ihn Tage und Nächte lang
quält, der eine Antwort und eine Wahrheit vor sich liegen hat und sich nur zu
bücken brauchte, um sie aufzuheben, stellt seine Frage nicht. Lieber einen schönen
Traum, lieber hundert entsetzliche Zweifel als . . . Lieber ein zitterndes Glück, ein
Glück in Lüge, als gar keines.
Schnitzlers Philosophie ist die des Spieles. Wir alle sind nur kleine elende
Komödianten, die die Komödie spielen, die irgend ein Fremder, Unbekannter ge¬
schrieben hat. Im „Puppenspieler“ hat er den Gedanken ausgeführt: das Schicksal
ist „groß und gigantisch“, die Menschen nur Duppen in seinen Händen, die sich
drehen, wie es pfeift. Wenn aber eine Puppe selbst einmal zum Tanze aufspielen
möchte, vom Größenwahn befallen, selbst Direktor sein will, wird sie nur allzubald
„zermalmt“.
Seine Charaktere und Probleme sind meist dieselben, nur die Kleider, die
sie tragen, wechseln in den Stücken. Hie und da macht sich fremder Einfluß geltend,
aus weiter Ferne; manche Gestalt hat einen Ahnen oder Verwandten im Norden.
Wie Frauen- und Wienertum, versteht er es auch, das Judentum manchmal
in wenigen Strichen trefflich zu charakterisieren. Alle drei (ich möchte sagen)
Geistesrichtungen, kreuzen sich abgesehen von ihrem gemeinsamen Feminismus in
gewissen Brennpunkten ihrer platonischen Ideen und bilden wichtige Bestandteile
der Persönlichkeit Schnitzlers, deren Ausdruck aus dem Drang sich davon zu befreien,
geboren ist. In der geistvollen Satire „Literatur“ sagt der Sportaristokrat einmal
von zwei Literaten, „die müssen Juden gewesen sein, . .. weil sie immer so Witze
gemacht haben.“ Eine Weltanschauung ist hier in einem Satz komprimiert. Die
kühle, unparteiische Überlegenheit, mit denen der Dichter seine mit Liebe gehaßten
und mit Haß geliebten Wiener schildert, ohne Bitterkeit und Sarkasmus, ohne ins
Groteske abzuschwenken, ist das Bewundernswerte.
Schnitzler wandelt stets auf dem Boden der Wirklichkeit, doch niemals trotz
aller Wahrheit und Lebendigkeit gibt er einen Naturabklatsch, nie eine nüchterne
Häßlichkeit. Um alle seine Menschen und ihre Worte ist der feine, zarte Traumschleier
der Poesie gesponnen. Sie hebt die Abgründe, macht sie blühend und hell. Viele
Köpfe und nicht gerade die schlechtesten standen seiner Kunst lange kalt und ver¬
schlossen gegenüber. Mag er nicht gewaltig und wuchtig, nicht als Promethide
kommen; wir grüßen ihn wie er ist, den weichen, den stillen, empfindungsreichen
Träumer mit der sanften, milden Wehmut, mit der traurig-heiteren Nachdenklichkeit.
Graziöser als er, ist kaum einer in deutschen Landen.
Diese Grazie stammt aus Frankreich, aus Paris. Die „Anatol“-Maske ist
nur ein Gewand nach französischem Schnitt und Geschmack, das ein Wiener an¬
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um nicht von ihm, der die Wirklichkeit sehen mußte, aus ihrem Traum gerissen
zu werden. Tausendmal lieber eine Illusion, als eine Wahrheit. Anatol, dem das
Schicksal Antwort geben konnte auf jene Frage, die ihn Tage und Nächte lang
quält, der eine Antwort und eine Wahrheit vor sich liegen hat und sich nur zu
bücken brauchte, um sie aufzuheben, stellt seine Frage nicht. Lieber einen schönen
Traum, lieber hundert entsetzliche Zweifel als . . . Lieber ein zitterndes Glück, ein
Glück in Lüge, als gar keines.
Schnitzlers Philosophie ist die des Spieles. Wir alle sind nur kleine elende
Komödianten, die die Komödie spielen, die irgend ein Fremder, Unbekannter ge¬
schrieben hat. Im „Puppenspieler“ hat er den Gedanken ausgeführt: das Schicksal
ist „groß und gigantisch“, die Menschen nur Duppen in seinen Händen, die sich
drehen, wie es pfeift. Wenn aber eine Puppe selbst einmal zum Tanze aufspielen
möchte, vom Größenwahn befallen, selbst Direktor sein will, wird sie nur allzubald
„zermalmt“.
Seine Charaktere und Probleme sind meist dieselben, nur die Kleider, die
sie tragen, wechseln in den Stücken. Hie und da macht sich fremder Einfluß geltend,
aus weiter Ferne; manche Gestalt hat einen Ahnen oder Verwandten im Norden.
Wie Frauen- und Wienertum, versteht er es auch, das Judentum manchmal
in wenigen Strichen trefflich zu charakterisieren. Alle drei (ich möchte sagen)
Geistesrichtungen, kreuzen sich abgesehen von ihrem gemeinsamen Feminismus in
gewissen Brennpunkten ihrer platonischen Ideen und bilden wichtige Bestandteile
der Persönlichkeit Schnitzlers, deren Ausdruck aus dem Drang sich davon zu befreien,
geboren ist. In der geistvollen Satire „Literatur“ sagt der Sportaristokrat einmal
von zwei Literaten, „die müssen Juden gewesen sein, . .. weil sie immer so Witze
gemacht haben.“ Eine Weltanschauung ist hier in einem Satz komprimiert. Die
kühle, unparteiische Überlegenheit, mit denen der Dichter seine mit Liebe gehaßten
und mit Haß geliebten Wiener schildert, ohne Bitterkeit und Sarkasmus, ohne ins
Groteske abzuschwenken, ist das Bewundernswerte.
Schnitzler wandelt stets auf dem Boden der Wirklichkeit, doch niemals trotz
aller Wahrheit und Lebendigkeit gibt er einen Naturabklatsch, nie eine nüchterne
Häßlichkeit. Um alle seine Menschen und ihre Worte ist der feine, zarte Traumschleier
der Poesie gesponnen. Sie hebt die Abgründe, macht sie blühend und hell. Viele
Köpfe und nicht gerade die schlechtesten standen seiner Kunst lange kalt und ver¬
schlossen gegenüber. Mag er nicht gewaltig und wuchtig, nicht als Promethide
kommen; wir grüßen ihn wie er ist, den weichen, den stillen, empfindungsreichen
Träumer mit der sanften, milden Wehmut, mit der traurig-heiteren Nachdenklichkeit.
Graziöser als er, ist kaum einer in deutschen Landen.
Diese Grazie stammt aus Frankreich, aus Paris. Die „Anatol“-Maske ist
nur ein Gewand nach französischem Schnitt und Geschmack, das ein Wiener an¬
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