VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Paul Czinner, Seite 5


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1. Panphlets Offbrints
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gelegt hat, den es hinauszog. Eine gelinde, vielleicht kaum eingestandene Sehnsucht,
ein seltsames Heimweh nach der Stadt der glanzäugigen Grisette träumt im „Hnatol“,
diesem lieblichsten aller Bücher. Schnitzlers sogenanntes „süßes Mädel“, jene char¬
mante, angenehme Pflanze, jenes unter Tränen lächelnde, reizend sorglose Geschöpf,
das von einem Mund zum andern liebt und küßt, ist ja schließlich nichts anderes
als eine lokale Spielart der schmalfüßigen, leichtherzigen Pariser Grisette. (Die Ur¬
großmutter all dieser „Mädeln“ könnte übrigens Goethes Gretchen sein.) Oft hört
man geradezu bei Schnitzler französische Phrasen und Tonfälle in den Worten mit¬
klingen. Prickelnder Pariser Esprit, gemischt mit wienerischer Liebenswürdigkeit,
Wiener Humor und Traulichkeit, getränkt mit der lauen, schwärmerischen „Wein¬
Weib-Gesang“-Htmosphäre Wiens. Er vermag sentimental zu sein, ohne von Senti¬
mentalitäten zu triefen, er vermag in Pathos zu sein ohne pathetisch zu werden.
Schnitzler ohne Maupassant wäre kaum möglich. Aber hier liegt nicht Nachahmung
vor, sondern Abstammung, Familienähnlichkeit, Vererbung. Was ihn unterscheidet,
ist die seelische Vertiefung, die leise Melancholie und traurige Lebensstimmung, das
Erbteil aller tiefen, feinen Naturen.
Durch die „Liebelei“ geht der Dichter der Welt des „Anatol“; aber gereifter,
ernster. Das Spielerische ist geschwunden. Was uns das Werk so naherückt, ist
die einfache Tragik, die ergreift. Wir sehen das Trauerspiel eines jungen Iädchen¬
herzens, wie es sich heute und täglich ereignen kann. Aber welche Gemütstiefe
bei aller Natürlichkeit! „Ich möchte nur“, sagt Christine, „daß du das weißt und
mir glaubst: daß ich keinen lieb gehabt vor dir und daß ich keinen lieb haben
werde — wenn du mich einmal nimmer willst“ — (wenn du mich einmal nimmer
willst!) Und er: „Sag’s nicht, sag’s nicht — es klingt .. zu schön“ ... Chri¬
stine ist Mädchen in jeder Regung, völlig naiv, innig und zurückhaltend, freud¬
los und doch selig, eine stummhingegebene, unmittelbare Gestalt, wie wir sie in
Träumen glücklicher Stunden manchmal sehen. So rein kommt sie nicht wieder.
Schnitzler ist Lpriker, den der Stoff zur Novelle drängte, Novellist, der
dramatisiert. Den Höhepunkt seiner Erzählerkunst hat er im „Sterben“ erreicht.
Müdigkeit, Weichheit, Krankheit atmet dieses Buch. Abschiedstimmung, Ein
Schwindsüchtiger soll aus der Welt. Selbstverständlich hat er eine Geliebte. Das
allmähliche Absterben, das fortwährende Bleicherwerden, das schmerzliche Ringen der
Seele ist hier gemalt, das fürchterliche Bewußtsein der Hoffnungslosigkeit, das
Gerührtsein und die Trauer mit sich selbst, der Menschenhaß und endlich die Sehn¬
sucht, das Teuerste, Kostbarste mit sich zu nehmen: die Geliebte, die vom Hung
zum Sein erfüllt ist. Viele sagen einfach: Schnitzler ist Arzt. Gewiß, meine Lieben.
Das ist aber nicht von einem geschildert, der bloß zugeschaut hat, das ist von einem,
der den Tod innerlich erlebt hat.
In „Freiwild“ und „Vermächtnis“ sehen wir einen, der bisher auf weichen
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