VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Paul Czinner, Seite 7


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1. Panphlets offprints
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sind ihm das Primäre. Er malt nicht, wie der Blitz einschlägt, aber das, was nach¬
her geschieht, die Verwirrung und die Leiden der Seele. Die Folgen, die eine Be¬
gebenheit für das Innenleben hat, interessieren ihn, nicht die Begebenheit selbst.
Die dramatische Wirkung ist ihm Nebensache. Das äußerliche Geschehnis wird neben¬
bei erledigt. Ahnlich wie es beim letzten Wagner und lbsen der Fall ist. Melot ver¬
wundet Tristan, der Vorhang fällt. Dann aber kommt der ganze dritte Hkt: die
Seele spricht.
Im Schauspiel „Der einsame Weg“ hört man ein fernes Flügelrauschen.
Der große Schatten lbsens schwebt über dieser Dichtung. Hier gehen Menschen, die
alle ein eigenes, besonderes „Schicksal“ haben, Menschen mit schwermütigen,
nordischen Herzen. Eine dunkle, verhaltene Traurigkeit, die Erkenntnis der Unerfüll¬
barkeit aller menschlichen Sehnsucht, das dumpfe Gefühl ewigen Alleinseins — das
ist die Grundstimmung, die wie ein zartes, schwarzes Gewebe über diese schmer¬
zensmilde, stahlfeine Schöpfung gebreitet liegt. Leben, Liebe und Leid tragen hier
ein anderes Antlitz, ein älteres, matteres, Dieser Genießer und Auskoster Sala, mit
der Müdigkeit der Überempfindlichen, in deren Ruge das Sonnenlicht nur prismatisch
gebrochen hineingelangen kann, dieser kranke Egoist, dem das Betrachten des Lebens
und seiner Beziehungen und Zusammenhänge mehr ist als irgend ein einzelnes
Wesen, ist von einem feinnervigen Dichter geschaffen, der den Herbst der Jugend
nahen fühlte und in trüber Katzenjammerstimmung Rückschau hielt.
Der „Ruf des Lebens“ bedeutet ein Aufraffen. Schnitzler versucht seiner
Weichheit Herr zu werden. Dies gelingt ihm leider — indem er durch theaterhafte
Gewaltsamkeit sein Selbst verleugnet.
Und nun erschien sein größtes, reichstes und schönstes Werk: „Der junge
Medardus“. Eine Dichtung von immensem künstlerischen Wollen. Wie ein breiter,
ruhiger Strom fließt sie hin, in den sich der helle Wasserfall der kristallklaren,
schäumenden Bäche und Flüsse ergossen hat, deren anmutig-munteres und wildes Rauschen
wir von früher kennen. Arthur Schnitzler-Sinfonie möchte ich es nennen. Aus drei
Tragödien setzt es sich zusammen, die ineinander greifen und sich gegenseitig um¬
armen: Medardus-Drama, Napoleon in Wien, der Königstraum des Herzogs von
Valois. Den Kern bildet das erste, das die beiden anderen umschließen. „Gott
wollte ihn zum Helden michen, der Lauf der Dinge machte einen Narren aus ihm,“
sagt Etzelt von Medardus Manch unbewachter Rugenblick aber raunt uns leise
die Frage ins Ohr, ob so ein „Narr“ wohl berechtigt sei, Titelheld und Mittelpunkt
einer großen Tragödie zu sein. Hierin liegt ein Mangel der Schöpfung: der Held
ist ein Halber, der nie sebsttätig in die Handlung eingreift, sondern bloß stets ge¬
trieben und gelenkt wird, eigentlich also ein Romanheld.
Ein gewaltiger, bltigroter Hintergrund und davor eine zarte enggezirkelte
Handlung, eine rauschende Flut von Begebenheiten, eine Fülle lebendiger„Gestaltep—1

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kunstvolle Verknüpfung kleiner und großer Menschlichkeiten. Verzweiflung und Tod,
Hoffnung und Rettung, Henker und Opfer, bloßgelegte Schmerzen und wunde Seelen,
treibende Schicksale. Und über allem der milde Hauch der Poesie, der bestrickende
Zauberschleier, den die feinfühlige, sanfte Hand Arthur Schnitzlers darüber gewebt.
Ein Werk, das bleiben wird. Nicht als historisches Dokument aber als
wundervolles Denal eines unvergeßlichen Dichters, als ein Denkmal schöner und
inniger deutsch-österreichischer Kunst.