VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Rosenthal Jungwiener, Seite 4

1. Panphlets offprints box 36/7
Friedrich Rosenthal, Jungwiener Novellistik.
Weg zur Seele bleibt wieder eine Aufgabe kommender Geschlechter. Ob das
bloße Wissen um diese Dinge und die Fähigkeit, sie sagen zu können, ein
Ersatz ist?
So also, wie oben geschildert, begann die Jungwiener Dichtung. Wieder,
wie immer hier, später und ruhiger als draußen und wie aus einem langen
Traumschlaf erwachend und sich die Augen reibend. Sie setzte der begehrlichen
Jugend ihrer Bekenner gemäß mit einem literarischen Bohemeleben ein, dessen
sehnsüchtig angeschautes Vorbild der Pariser Montmartre war. In Kaffeehäusern
fand, ebenfalls wie immer hier, dieses Leben seine vornehmlichste Berätigung.
Was es ausfüllte, waren weniger positive Werte eines geordneten, neuartigen
Schaffens als vorerst die renommistische Verkleinerung, Vernichtung bestehender
schon anerkannter Erscheinungen. Ein behaglicher, äußerlich drohender, inner¬
lich ganz harmloser Anarchismus tobte sich da in nächtlichen Redeschlachten
und heftigen Wortgefechten ganz ungefährlich aus. Noch lebte in der Erinne¬
rung ein versunkener Begriff dieser großen Zeit, ihr ewiges Symbol: das Café
Größenwahn. Dann kam es wie immer, wenn die Jugend hinaufgelangt. Sie
geriet in die Gesellschaft, kam zu Geld und Ruhm, zu Würden und zu einer leben¬
digen Bedeutung. Zuerst arriwierten die Altesten: Bahr, Schnitzler, Hofmanns¬
thal, Salten. Dann kamen die Jüngeren, denen bereits der vorgetretene Weg
zum Nutzen ward, gleich in den großen Betrieb, der nun schon Verlage, The¬
ater, Zeitungen, Zeitschriften usw. umfaßte. Stefan Zweig. Siegfried Tre¬
bitsch, Hans Müller, Raoul Auernheimer, Max Mell und Paul Wertheimer
gehören in diese Gruppe. Von außen gerieten Freunde hinzu: Jakob Wassermann,
Thaddäus Rittner, Alfred Polgar. Andere stehen gesellschaftlich anderswo, um
geistig trotzdem hier zugerechnet werden zu müssen: der einsame Philipp Lang¬
mann, der mehr philosophische Emil Lucka.
So sieht das Bild dieser zwanzig Wiener Jahre zusammengedrängt aus,
und wenn man im weiten Bogen über die Entwicklung hinwegspringt, wie viel
des Einzelnen, Wesentlichen ist damit übergangen. Dazwischen lagen, wie
immer zwischen Verheißung und Erfüllung, hohe Lebensmomente. Dazu äußerlich
die Überwindung des Naturalismus, das Auftauchen neuer Namen und Be¬
griffe, die kommen, sich grenzenlos erdreisten, um wieder zu verschwinden.
Dekadenz, Symbolismus, Nemomantik, Neoklassizismus und jene Wandlung
zu einem eigentümlichen, virtuosen, spielerischen Ausdruck, den Hermann Bahr
„den technischen Rausch“ genannt hat. Während aber draußen im Reiche Ver¬
wirrung und Verworrenheit immer zunehmen, klingt hier doch ein neues ge¬
meinsames Grundthema an.
Noch ist zu sagen, daß in diesem gedrängten Überblick der Weg vom An¬
fängertum zur Reife bei den meisten miteingeschlossen ist. Wie man sich keinen
„Wallenstein“ ohne „Die Räuber“ keinen „Götz“ ohne Shakespeare und die
anderen Dramen des „Sturm und Drang“, keinen „Faust“ ohne „Götz“ denken
kann, so muß man sich auch hier der einzelnen Wege vom Eklektischen zum
Ortginalen erinnern, Wege, die manchmal nie enden und manchmal sich im
Gestrüpp verlieren. Aber die Dinge find nicht das Wesentlichste. Die Menschen
vor allem vollenden sich.