VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Rosenthal Jungwiener, Seite 5

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1. Panphlets offprints
Friedrich Rusenthal, Jungwiener Novellistik.
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Blickt man auf diese lange Zeitspanne betrachtend und forschend zurück,
so offenbaren sich doch bestimmte Inhalte und Formen, die Aufschluß geben.
Es begann damals, dem französischen Vorbild gemäß, das erotische Problem
und blieb längere Zeit allein. Mit sozialen Fragen mühte man sich nicht gerne.
Auch der Politik und ihren Verzweigungen wich man lieber aus, wie denn
überhaupt eine Fremdheit dem lauten und öffentlichen Leben gegenüber Platz
griff, die lebhaft verurteilt wurde und bis in die letzten Jahre vorhielt. Der
Kreis jener guten Gesellschaft, aus der man hervorgegangen und in der man
lebte, war der alleinige Tummelplatz jenes literarischen Treibens. Auch hier
war natürlich das Erotische Mittelpunkt, aber es verfeinerte und komplizierte
sich auf eine merkwürdige Weise, deren Ursache im Erkennen vielfach ver¬
schlungener psycholagischer Beziehungen lag. Mit diesem neuen Inhalt und
einer raffiniert und kostbar gewordenen Technik griff man nun die Historie
an und erweit#rte das ewig gleiche Bild des Gesellschaftstreibens zu dem des
bunten, schillernden, seltsamen des Weltgeschehens. Für solche Stoffe war
eigentlich die Novelle die adäquateste epische Form. Schon ihr Wesen, dieses
Überraschende, Buntfarbige, rasch Beschlossene, Witzige, Paradoxe und al mutig
spielend Gestaltete paßte vortrefflich zu der Eigenheit ihrer Wiener Dichter. In
ihr kostbares, reiches und doch nicht zu massioes Gefäß paßte in Inhalt und
Form alles, was man vergangenem und gegenwärtigem Leben in konzen¬
triertestem Gehalte abnehmen konnte. Dazu erfüllte sie die Definitionen, die
Goethe und Aug. W Schlegel von ihr gegeben hatten und die sie „eine sich
ereignete unerhörte Begebenheit“ oder „etwas in jedem Punkte ihres Seins
und ihres Herzens Neues und Frappantes“ sein ließen, hier auf eine fesselade
und vollkommene Weise. Dieser lieh schon die Form, die man hier gerne übte,
wertvollste Unterstützung. Selbst der Naturalismus der Wiener war immer ein
liebenswürdiger gewesen. Fernab von dem wuchtigen, reinlichen und kargen
des Norddeutschen. Es paßte ebenso auch das zu dem ganzen Charakter der
Stadt und ihren Menschen. So wurde auch jetzt der Stil der Nooelle der
Ausdruck vornehmer, kultivierter, in traditionellem Prunk und lieblicher Schön¬
heit erwochsener Menschen. Man denke auch hier an die Franzosen, am besten
an Maupassant. Dazu half ferner ein neues Wissen um die tiefsten Dinge des
Lebens um die Geheimnisse der Seele und eine gewandelte Weltanschauung.
Man möchte sie wie vor hundert Jahren wieder „Romantik“ nennen. Und
man könnte das mit gutem Recht. Denn es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Nur unser Bild der ewigen Erscheinungen wechselt. Auch hier änderte sich
nur unser Schauen. Der Begriff blieb. Es ist die alte, stürmische, wenn man
will krankhafte Sehnsucht nach dem Unerhörten, Geheimnisvollen, Räiseldunkeln.
Es ist das heimliche aber tiefe Erschauern vor den Wundern der Welt und
der unfaßbaren Größe des Lebens. Es ist das ungeheuere Phänomen dieser
Zeit, von dem noch später gesprochen werden soll, daß sie unter der grauen,
gleichgiltigen Decke alltäglicher Nüchternheit ein Fragen, Suchen und ein ganz
heiliges Bekennen verbirat, das diese Decke einmal sprengen muß. Man mag
etwas heißen, wie man will, mit theologischen oder moralphilosophischen Namen
belegen. Ich nenne es Romantik, weil es wieder einmal wie eine große Krank¬