VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Rosenthal Jungwiener, Seite 10

1.

box 36/7
Panphlets offorints
100
Friedrich Rosenthal, Jungwiener Novellistik.
sich on einem Stachel, durch den er Staat und Gesellschaft, den Nachbar und
Gegner getroffen glaubt. Oder er liebt, es, die inneren Sorgen, die Fragen,
auf die es keine Antwort gibt, von sich abzuschütteln, indem er sie ironisch
verkleinern oder gar zu nichts machen läßt. Dieses bereite Gesühl gegensätzlicher
Stimmungen mußte notwendig in der Kunst einen Ausdruck finden, der auch
um ein passendes Wort nicht verlegen sein konnte. Die Bezeichnung „Tragi¬
komik“ konate genügen. Hter führt der Weg zurück zu Wien, wo wie fast
nirgends sonst diese grellen Gegensätze des Fühlens und Erlebens zuhause
sind, wo sie aus dem Volke kommen und bis zur Gesellschaft hinansteigen
und wo sie auch literarisch eingewurzelt und sitzberechtigt find. Was hier täg¬
lich aus Koupletstrophen klingt: Das Nebeneinander von Genießen und Sterben
das reuelose, rücksichtslose Auskosten der Lebensfreude, die tolle Wehmut und
die Lustigkeit, auf derem Grunde das Ende lauert, das ist auch ganz organisch
und mit einem großen Aufwand kunstooller und raffinierter Mtttel in die
Literatur gebracht. Nirgends spielt so wie hier der Tod täglich zum Tanze
auf und grinst aus einem Walzer, der zwei Ahnungslose, Liebende umschlungen
hält. Tragtkomödie!
In diesem Rahmen des Milieus und der Weltanschauung gruppieren sich
die Probleme. Was hat hier nicht alles Platz und wie können ins Bereich
eines neuen und tiefen Wissens gerückt, auch die alten romantischen Stoffe
neu und anders erscheinen. Traum und Vision, Weissagungen und Telepathie,
das merkwürdige Doppelgängermotiv. Die Urfragen Liebe, Haß mit ihren Aus¬
zweigungen Eifersucht, Rache, Betrug gewinnen neue Möglichkeiten. Das
erotische Problem, der blinde Rausch des Blutes oder der sexuelle Wunsch,
Willensübertragung und= verwandtschaft erfährt letzte Ausdeutung. Die
Urgründe des Verbrechens aus Veranlagung und psychischen Zwang werden
aufgedeckt und die urgrauen, ewigen Märcheninhalte, das Wissen um unbewußte
Dinge, das Erraten des Gedankens, die zauberhafte Verwirklichung geheimster
Wünsche spielerisch und symbolisch geoffenbart. Und ein schmerzliches Problem
höherer Ironie bleibt das Mißverstehen und das Willenlose unserer ethischen
Selbstbestimmung. „Überall wo im Kosmos Kräste verteilt sind, streben sie zur
Harmonie und was wir als sinnliche oder sittliche Kräfte in uns spüren, find
nur Zeichen für die Elemente einer höheren und meist sehr grausamen Ordnung“.
(I. Wassermann. Der Mann von vierzig Jahren.)
Es ist klar, daß diese Dichter, die demselben Heimatsboden entsprossen
sind oder zumindest in der Armosphäre des neuen Wien aufwuchsen, die
zumeist in demselben Winkel einer bestimmten Gesellschaft leben, die dort Ein¬
drücke empfangen und wieder hineingetragen haben, die unter sich verkehren
und einander anregen, in denen die älteren oder ursprünglicheren Vorbilder
für die jüngeren, eklektischeren sind, in ihren Werken innere und äußere
Gemeinsamkeiten aufweisen, abseits von jener polaren der Weltanschauung
und der Problemstellung. Vor allem gilt, zumal für die bestimmte Gruppe
Schnitzler, Wassermann, Salten, Zweig, Müller, im modernen Milieu ein
Typus von Mensch als vorherrschend, der eine sehr gemessene, noble, äußerlich
volnehm kultivierte, innerlich aufgestörte und haltlose Art hat, die ihre Formen