VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Soergel Dichtung und Dichter, Seite 8

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1. Panphletsofforints
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Arthur
gegenüberstellt, die beide in der Zeit ihrer sogenannten Leidenschaft füreinander
Schnitzler
ihre eigenen Liebesbriefe kopierten, um sie beide zu dem gleichen Roman in
Briefen zu verwerten. Was aber haben die Künstler von der Derewigung leben¬
diger Stunden, von ihren Meisterwerken selbst, fragt der dritte Einakter. Nichts,
wenn sie auf dem Totenbette ruhen. „Nachwelt gibt's nur für die Lebendigen.“
Was hat ein Sterbender „mit denen zu schaffen, die morgen noch auf der Welt
sein werden?“
Reigen
In den gleichen Zusammenhang gehören schließlich die spöttisch überlegenen
zehn Dialoge der 1896/97 geschriebenen Sammlung „Reigen“. Ein gewagtes,
artig unartiges Spiel vom Gegaukel der niederen Liebe. Der Gaukeltanz geht
durch alle Stände. Er beginnt mit einer holzschnittszene und er endet mit einer.
Aber nach der Mitte zu wird Liniengebung und Farbentönung immer feiner.
Und auch diese zehn Zwiegespräche wandeln Schnitzlers Lebenserkenntnis ab.
Wie ist erst in der niederen Liebe alles flüchtig, flüchtiger noch als alles sonst
in der Welt, zumal bei den Männern, die kurz nach dem Augenblicke höchsten
Liebesgenusses die schmiegsamer, zärtlicher werdenden Frauen fast als etwas
Fremdes empfinden!
Zwischen den „Einsamen Stunden“ und dem „Grünen Kakadu“ liegt „Der
Schleier der Beatrice“ (1901), das erste der nun folgenden längeren Dramen,
des Schauspiels „Der einsame Weg“ (1903), der Komödie „Zwischenspiel“ (1905),
des Schauspiels „Der Ruf des Lebens“ (1906). Ihre Themen liegen im Ge¬
dankenkreise der Einakter. Ihr Bau ist ein loses Nebeneinander verschiedener,
meist dünner handlungen.
Der Schleier
Wie sonderbar wechselnd sind doch der Menschen Empfindungen, fragt „Der
der Beatrice
Schleier der Beatrice“. Empfindungen, die ewigen Gesetzen unterworfen sind
und darum nicht mit Worten wie schuldig und schuldlos bedacht werden dürfen!
Wie sonderbar ist doch dieser Dichter Filippo Loschi, der heute das Lied nicht
mehr kennt, das er vor wenigen Tagen gedichtet, weil die nicht mehr da ist,
für die er es schrieb, weil in ihm nur noch Beatrice Kardi lebt, die sechzehn¬
jährige Tochter des verrückten Wappenschneiders, mit der er leben muß, fliehen
muß: heute noch, da morgen niemand mehr leben wird, denn Cesare Borgia
steht vor den Toren Bolognas. Wie sonderbar ist doch diese Beatrice! Sie kommt
zu Filippo, sie erzählt ihm ihren Traum, in dem sie sich als herzogin gesehen
hat, sie wird von Filippo fortgetrieben, denn sie ist dadurch für ihn beschmutzt,
sie willigt zu hause ein, einem Manne in die Kirche zu folgen, bei dem ihr Zu¬
flucht, Ruhe und Sicherheit zu sein schien, sie folgt aber dem herzog, der sie
vor dem hause ihrer Eltern gesehen, sie wird herzogin. Vom Festmahle aber
schleicht sie aus übergroßer Sehnsucht unbemerkt zu Filippo, aber sie will nicht
mit ihm sterben, sie flieht von dem Toten angstgepeitscht mit dem Rufe „Leben!“
Ihr zurückgelassener Schleier verrät sie. Sie läßt sich verstoßen, nur um nicht
bei dem Toten den Schleier holen zu müssen, und sie geht doch mit dem herzog
an die Leiche, als sie selbst sterben soll. Ein Kind, das nichts Böses wollte, das
nur das Grauen, die Angst vor dem Tode, von Lüge zu Lüge, von Schmach zu
Schmach jagte,
„das mit der Krone spielte, weil sie glänzte, —
mit eines Dichters Seel, weil sie voll Rätsel, —
mit eines Jünglings herzen, weil's dir just
geschenkt war?“
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