VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Soergel Dichtung und Dichter, Seite 14


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1. PanphletsOfforints
darüber; die Christen — sie sind in der Minderzahl — schweigen meist. Es bricht
Schnißter
der Schmerz des Dichters durch, nicht ganz daheim zu sein, und wenn für sich,
nicht für die anderen. Wahre Worte fallen, keine gereizten. Eine Liebes¬
geschichte zwischen einem Baron und einem sehr gescheiten Mädchen — beide sind
Thristen, aber der Baron als Musiker ist in enger Fühlung mit der Wiener jüdi¬
schen Welt — muß dem Romane den nötigen halt geben. Am Ende gehen beide
auseinander, nachdem das Kind, das Anna ihm geboren hat, gestorben ist. Der
Baron geht den „Weg ins Freie — man
mag darüber rechten, ob nötig oder nicht.
Staunenswert bleibt, wie zwanglos um
diese Liebesnovelle die Ausschnitte aus
dem jüdischen Wien geordnet sind, wie
zwanglos mit dem Fortrücken der hand¬
lung und der Charakterentwicklung
der Liebenden die Charakterentwicklung
einer großen Zahl jüdischer Typen jeden
Alters, Standes und Geschlechts vorrückt,
wie mit dem Abschluß der Geschichte der
Liebenden auch die Geschichte der ande¬
ren abgeschlossen ist. Ein hoher Reiz
geht von der Sprache aus, von diesen
klaren Sätzen, diesen immer in den Kern
treffenden Beiworten; aber das Beste ist
doch, daß, wie bei Fontane, die Gestalt
des Dichters durchleuchtet, klug, klar,
bescheiden, sich immer treu, freilich auch
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weich und für eine neue Jugend sehr,
sehr fremd.
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Der Fünfziger
Aber noch der Fünfziger und Sech¬

und Sechziger
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Schnitzler
ziger fesselt als Könner. Das Gegenstück
und die Jugend
zum „Lieutenant Gustl“, das Selbstge¬
spräch der neunzehnjährigen „Fräulein
Citelzeichnung von Hans Meid
Else“ (1924), zeigt in keiner Zeile eine
zu Arthur Schnitzler, Traumnovelle.
erlahmende hand. Wenn er will, kann er
S. Fischer Verlag, Berlin
aus seiner haut; in „Casanovas heim¬
fahrt“ (1919) erinnert nur der Gegen¬
stand, nicht die Art der Gestaltung an die Lieblingsweise. Absichtlich, nicht weil er
nicht anders kann, bleibt der Erzähler mehr noch als der Dramatiker in seinem
Reiche. In dem Jahre, in demzer fünfzig geworden ist, hält er in der Samm¬
lung „Masken und Wunder“ (1912) einmal über sich Gericht. Vorübergehend
vom ersten Zugwind einer kommenden Zeit aufgeschreckt, erscheint ihm der kühl
Verstehende und Betrachtende als ein Karr, und der Weise trägt eine Fratze:
beide den Wundern des Unbegreiflichen fern, nach denen der Alternde verlangt.
Er selbst aber geht dann doch weiterhin al Mensch, als Dichter, als Arzt die
Wege des Verstehens, Betrachter auch in der jüngsten Vergangenheit, die sonst
alle zur Parteinahme zwang: er muß (in der „Frau des Richters“, 1925), was
giftiger Parteiblick hüben wie drüben verfratzte, zu menschlichen Gesichtern klären.
Wie geistig, bleibt er stofflich in seinen Grenzen. Der Alternde gestaltet dreimal
das Schicksal, das das Alter für Menschen bedeutet, deren seelisches Wesen oder
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