VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 2

2. Cuttings
Feuilleton.
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Arthur Schnitzler.
st ungefähr ein Jahrzehnt verflossen, seitdem
leich, die große Leere füllend, welche Grill¬
od hinterließ, eine Anzahl neuer Dichter
und die revolutionären Bestrebungen, welche
m in Frankreich, seit kurzem im Deutschen
ter den Schlagwörtern des modernen Geistes
hodernen Kunst zu herrschen begannen, auf
imatlichen Boden verpflanzte.
Einklange mit dem sybaritischen und arti¬
arakter der Wiener Kultur gediehen anfänglich
eime der neuen Kunst zur vollen Blüte, welche
ierung und Vertiefung des gesellschaftlichen
chen Lebens versprachen. Der große soziale
sich gleichzeitig in den Meisterwerken der
hen Literatur mächtig zur Geltung drängte,
er jungen Wiener Kunst kaum zu merken.
chnen wir in Frankreich Emile Zola, in
Hauptmann, in Rußland Tolstoi, in
aber — Hugo v. Hofmannsthal, Peter
und Arthur Schnitzler.
ehr diese drei Namen für das Wiener Auge
ren scheinen, so einheitlich erscheint ihre ge¬
st den Fernestehenden, welchen bei der Be¬
von Menschen und Werken immer zuerst das
hie, dann erst nach längerer Gewohnheit und
herem Studium das Besondere auffällt. Das
ie an diesen drei Dichtern ist die subtile
die ästhetische Moral, der mystische Hinter¬
dessen Dunkel sie gerne Bild und Gedanken
lassen, und endlich die souyeräne Veruhtung
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der großen sozialen Probleme und Kämpfe, welche in
die Höhe und Abgeschlossenheit ihrer artistischen Welt¬
anschauung nicht hinaufreichen.
Der extremste von diesen Dreien ist Hugo von
Hofmannsthal, dessen aristokratische Subtilität von
vornherein dem großen Publkium den Zutritt verwehrt.
Gleich nach ihm folgt Peter Altenberg, der, obwohl
er im Gegensatze zu Hofmannsthal den aristokratischen
Traditionen vollkommen ablehnend gegenübersteht, sich
doch durch die Exklusivität einer rein ästhetischen
Weltanschauung und Lebensmoral von vornherein
von der Menge scheidet, die seine Moral der Künstler
weder billigen noch verstehen kann.
Mit dieser hohen und exklusiven Art ist eine
gewisse Enge naturgemäß verbunden. Je höher der
Wanderer auf dem Gebirge vordringt, desto einsamer
wandelt er und desto kleiner wird der Boden, der
ihn umgibt. Doch ist es schwerer in den Niederungen
und unter der Menge groß zu sein. Und der müßte
schon ein Riese sein, der, mit den Füßen auf dem
Erdboden stehend, mit den Augen in die Höhen und
Fernen reicht. Wir können nur zwei nennen, die es
vermocht, Shakespeare und Goethe.
Jedenfalls gehört ein rühmenswerter Mut dazu,
trotz des angeborenen artistischen oder, deutlicher gesagt,
l’art pour l'art=istischen Charakters die Richtung und
die Wirkung des Schaffens auf das Allgemeine ab¬
zuzielen. Und dies ist, wie mir scheint, der Entwicklungs¬
gang Arthur Schnitzlers.
Von den dramatischen Skizzen des „Anatol“,
welche, in einem beschränkten Kreise von verwohnten,
großstädtischen, überkultivierten Menschen spielend, auch
wieder nur in diesen Kreisen durch die Kühnheit
ihrer Situationen, durch die Finesse ihrer Psychologie
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entzückten, bis zu dem neuen großen Werte Artyur
Schnitzlers „Der Schleier der Beatrice"*) ist
wahrhaftig ein weiter Weg!
In diesem Drama hat Schnitzler die Fesseln
lokaler und stofflicher Begrenztheit abgeworfen. Es ist
nicht mehr das „Süße Mädel“, die „Liebelei“, der
blasierte, artistisch=dekadente „Anatol“ der in anderen
Masken wiederholt bei Schnitzler auftritt — Menschen,
die an das Wien des letzten Jahrzehnts unlösbar
gelnüpft sind — sondern es sind typische und symbolische
Figuren, die unter dem historischen Gewande der Re¬
naissance unvergängliche menschliche Erscheinungen
repräsentieren wollen.
Shakespeare und Goethe waren wohl die Genien,
zu denen der Dichter im heißen Ringen hinaufgeblickt
haben mochte.
Dieser Emanzipation von der exklusiven Kunst
zum Allgemeinen und Unvergänglichen dürfte Schnitzler
auch seine Wirkung in den breiten Kreisen des Publikums
zu danken haben.
Wenn man den Eindruck beobachtet, den die vier
Stücke des Cyklus „Lebendige Stunden“, welcher
neulich im Deutschen Volkstheater zum ersten¬
male aufgeführt wurde, auf naive Zuhörer haben, so
merkt man deutlich, wie das erste von ihnen, nach
dem der Cyklus betitelt ist, befremdet und in seiner
Wirkung versagt.
Sein Thema ist ein allzu literarisches und mehr
zu philosophischer Behandlung oder novellistischer Aus¬
spinnung als zu dramatischer Zuspitzung geeignet.
Daß eine kranke Mutter für ihren Sohn, de,
Dichter ist, ihrem Leben vorzeitig ein Ende machtr
*) Sämtliche Werke Arthur Schnitzlers im Verlage
S. Fischer in Beilin.