VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 56

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2. Cuttings
S
also keineswegs etwas Abnormes oder gar in sich Wider= französelnden Persönlichkeit heraus beobachtet und schildert Denkweise, des Gefühl¬
sprechendes, daß dieser Dichter des Todes zugleich mit
er nun das heimatliche wienerische Leben und Lieben.
in denen, so geringfüg
einem Boccaccio oder Pietro Aretino in erotischer Kühn¬
Wenn ich etwas von Schnitzler lese, meine ich, franzö¬
Wien sich verrät, wie e
heit wetteifert. Der Zeugungsakt und das Sterben ver¬
sische Worte, Phrasen und Tonfälle wie aus der Ferne
virtuofen Photographen
halten sich nun einmal zueinander wie Komplementär¬
leise mitklingen zu bören. Das soll kein Tadel sein.
kennt und empfindet v
farben; wer die eine stark empfindet, muß, ob er will
Nur das eigentlich Schnitzlersche an Schnitzler soll es
so sehr die schwere Mu
oder nicht, auch die andere stark empfinden. Dadurch
charakterisieren, diese einzige Verschmelzung französischer
namentlich die sprachl
aber sind die erotischen Dichtungen Schnitzlers auch weit
Klarheit und prickelnden Pariser Esprits mit Wienerischer
groben Urwienerisch un
mehr als Nuditäten; der dunkle Hintergrund des
Liebenswürdigkeit, Wienerischer Liederlichkeit, Wienerischer
der Welt, aus der Sch
großen Mysteriums, vor dem sie sich abspielen und dessen
Traulichkeit und Wienerischem Humor, kurz, mitallen Stoffen,
gesprochen werden. Der
unheimliche Nähe man bei Schnitzler immer fühlt, auch
welche die Atmosphäre Wiens sättigen und ihr die an¬
ihm den Charakter, die
wo er seinen Humor leuchten läßt, adelt sie
heimende Molligkeit und das charakteristische Aroma ver¬
beinahe
der Menschen zuflüster
zur Poesie.
leihen. Sind es doch die Franzosen, welche die Novelle
Sprache, die Lieutenar
Schnitzlers Erotik, das werden auch solche nicht be¬
und die Komödie befähigt haben, das nur mit den feinsten
mit so unfehlbarer Siche
streiten, die für seine diskrete Künst die höchste Bewun¬
Nervenspitzen zu empfindende, begrifflich schier undefinier¬
Gustl wäre, die Gedan
derung hegen, ist eine ziemlich eng begrenzte. Es ist
bare individuelle geistige Fluidum einer Stadt und einer
dieser Mensch in dieser
wienerische Erotik, in deren Mittelpunkt der von Schnitzler
Bevölkerung mit erlesener Sprachkunst zu erhaschen
glänzenden Satire „Li
ins Heimatliche umgebildete Typus des „süßen Mädels“
und festzuhalten, so daß der Leser des Buches
mit seiner Braut über
mitten
steht. Man pflegt zu sagen, daß Wolzogen diesen Typus
in der Stadt, aus deren großem Leben
troffen haben. Von zw
eine dramatische
geschafsen hat. Der Name mag von ihm sein, aber der
Episode
oder novellistische
ge¬
Juden gewesen sein.
Typus selbst ist in Wahrheit ebenso alt wie die moderne
schildert wird, zu wohnen und ihre Atmosphäre
g'macht haben.“ Eine
deutsche Poesie. Goethes Gretchen ist die Urgroßmutier
zu atmen glaubt. Alle europäischen Nationen haben den
flüchtigen Zuge skizziert
aller deutschen „süßen Mädeln“, und Melitta und Hero
Franzosen diese Technik abgelernt und sie den besonderen
Immer wieder wir
gehören, trotz griechischer Tracht und fünffüßigem Jambus,
Zuständen, die sie z
u schildern hatten, angepaßt, die
Aufforderung gerichtet,
auch zur Familie. Ob Schnitzler diese seine Lieblings¬
großen russischen Romanciers nicht minder als die
Stils zuzuwenden. Er
gestalt frischweg und unmittelbar aus dem Wiener Leben
nordischen Dramatiker. Ibsen ohne Dumas und Turgen¬
obwohl in Wien ein
herausgegrissen hat? Ich zweifle daran. Dem wienerischen
jew ohne die George Sand ist ebensowenig denkbar als
angehäuft ist. Weshalb
Erdgeschmack, den auch der bornierteste Antisemit
Ferdinand v. Saar ohne den Schüler der Franzosen
er zu sehr Poet und
Schnitzlers Sachen nicht wird abstreiten können ist eine
Turgenjew und — Schnitzler ohne Guy de Maupassant.
zu können. Die Mela
zarte Blume beigemischt, die auf einen anderen Ursprung,
Da liegt nicht Nachahmung vor, sondern Abstammung
und feineren Geister in
die nach Paris deutet. Schnitzler, wie viele seiner Nach¬
und Familienähnlichkeit. So dürfte auch das „süße
gemütlichen Wien, umsp
ahmer, die heute das literarische Wien überschwemmen,
Wiener Mädel“ als lokale Spielart des Pariser Studenten¬
spiel, wie man es von
wäre, wenigstens in seiner ersten Zeit, gewiß lieber ein
liebchens der Grisette, anzusprechen sein; dieses angenehme
müßte er vor allem fü
eleganter junger Pariser Autor gewesen als ein Wiener.
Geschöpf ist also, wie oben angedeutet, auch ein wenig
stände Sinn und Inte
Die „Anakol“=Maske, in welcher er seinen ersten großen
literarischen Ursprungs.
Dichter in ihm ganz kalt I
Erfola errang, verrät diese Sehnsucht, dieses der sozialen
Obwohl bei den meisten Sachen von Schnitzler in
haben nur für drei D
Schichte, der Schnitzler entstammt, eigentümliche Heimweh
Stoff und Stil ein gewisser Parallelismus mit Pariser
und fürs Komödiespiele
nach Paris. Indem Arthur Schnitzler sich Anatol taufte,
Urbildern nachgewiesen werden könnte, so muß man ihm
tur ist er in dieser Hi
gelang es ihm, wie ein Schauspieler, der sich leiblich und
doch zugestehen, daß er die angeeigneten Formen mit
märzes. Deshalb, glau
seelisch bis an die Grenze per Identifizierung in eine
echtem frisch pulsierendem Wiener Blut zu füllen gewußt
man ihm zutraut, ung
Rolle hineinlebt, auch sein innerstes, wienerisches Selbst
hat. Zwar nicht das ganze Wien, aber Geist und Wesen
schärsste und diskretest
im pariserischen Sinne umzufärben und sich fortan so zu
gewisser Schichten und Koterien der Wiener Gesellschaft Wiens, daß ein Kopf
fühlen, als ob er ein geborener Anatol oder Raoul und
lebt in Schnitzlers Büchern und Komödien. Der Leser
wie dieses uns von n
die Ringstraße das Boulevard und der Prater das Bois
fühlt sich immer wieder froh überrascht, in Schilderung „süßen Mädel“, vom
wären, und aus dieser ein ganz klein wenig anaffektierten] der Natur und der Menschen gewisse typische Züge der allen Formen.